Eine Rezension von Birgit Pietsch


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Fallen und Zeitbomben

 

Christoph Gauer/Jürgen Scriba: Die Standortlüge
Abrechnung mit einem Mythos.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1998, 239 S.

 

Ein Unternehmen nach dem anderen scheint Deutschland zu verlassen. Die Textilindustrie ist schon weg und andere folgen: Audi läßt in Ungarn fertigen, BMW in South Carolina und Mercedes in Alabama. Siemens beschäftigte 1998 erstmals mehr Mitarbeiter im Ausland als in Deutschland. Presse, Wirtschaftsverbände und viele Politiker sind sich einig: Die Bundesrepublik gerät im internationalen Wettbewerb ins Hintertreffen, und der Standort Deutschland ist nicht mehr attraktiv für Unternehmen. Die Ursachen dafür sind auch schnell ausgemacht: Die Löhne sind viel zu hoch, ebenso die Lohnnebenkosten, von der Staatsquote ganz zu schweigen. Man operiert mit Zahlen und Beispielen, daß dem Publikum ganz schwindlig wird. Schon sitzt es in der Falle, und dabei ist es nur Opfer eines Betrugs, den Christoph Gauer und Jürgen Scriba Die Standortlüge nennen. Sie weisen nach, daß viele Zahlen, mit denen in der Diskussion operiert wird, einfach falsch sind. So behauptete beispielsweise ein industrienahes Forschungsinstitut, daß die Lohnnebenkosten mit mehr als 80 Prozent, fast genausohoch seien wie die eigentlichen Löhne, während das Statistische Bundesamt auf lediglich 29 Prozent kommt. Auch die Klagen der Industrie über zu hohe Löhne in Deutschland werden von den Autoren in Frage gestellt, da bei vielen modernen Produkten die Arbeitskosten nur mit wenigen Prozent an den Gesamtkosten beteiligt sind, bei der Produktion von Handys sind es beispielsweise drei Prozent. Darüber hinaus sehen Gauer und Scriba in Lohnsenkungen eine große Gefahr für die Volkswirtschaft und das nicht allein wegen der sinkenden Kaufkraft. Unternehmen, die mit der Senkung von Löhnen ihre Gewinne steigern können, müssen nicht die Produktivität erhöhen und geraten dann tatsächlich international ins Hintertreffen. Auch die immer wieder gern gepriesenen Vorbilder nehmen die Autoren genauer unter die Lupe. So hieß es etwa in einem Bericht über das amerikanische Beschäftigungswunder, daß zwei Drittel der neuen Arbeitsplätze in Tätigkeitsbereichen und Industriezweigen geschaffen wurden, die mehr als die mittleren Löhne und Gehälter zahlen. Hieraus entstand der Irrglaube, daß es sich in der Regel um hochbezahlte Jobs handele. In Wirklichkeit wurden die neuen Arbeitsplätze „am unteren Ende der Verdienstskala der jeweiligen Tätigkeitsbereiche geschaffen“. Shareholder Value - ein anderes Zauberwort, das seit einigen Jahren die Runde macht und den Aktienkurs zum wichtigsten Gradmesser des unternehmerischen Erfolgs. Die Autoren erkennen in diesem Prinzip eine gefährliche Zeitbombe. Sie weisen nach, daß ein reines Renditestreben die Investitions- und Risikobereitschaft dämpft und so den Fortschritt der Gesamtwirtschaft gefährdet. Ebensoscharf gehen die Autoren mit der Forderung nach einer Dienstleistungsgesellschaft ins Gericht, da ein Aufschwung auf diesem Gebiet nur ein Strohfeuer sei: „Haben die neuen Anbieter ihre Kunden gefunden, ist das Wachstumspotential erschöpft, denn eine Produktivitätssteigerung ist bei dieser Art von Arbeit nicht möglich. Die Wirtschaft tappt in die Dienstleistungsfalle.“ Doch die Abrechnung mit Mythen und Phrasen ist nur eine Seite der Medaille. Wie lassen sich nun Arbeitslosigkeit u. ä. Probleme lösen? Tätigkeiten mit hohem Qualifikations- und Produktivitätsniveau müssen her, fordern die Autoren. Zudem müssen die Lebensarbeitszeit flexibler gestaltet und vorübergehende Unterbrechungen der Berufstätigkeit üblich werden. Hinzu kommt die Forderung nach mehr Arbeitsplätzen mit einer Wochenarbeitszeit von unter 15 Stunden. Dieser Teil des Buches, der unter der Überschrift „Kurskorrektur“ steht, bleibt hinter den anderen Abschnitten zurück. So erhellend ihre Entlarvung der „Standortlüge“, so wenig Vorschläge bieten Gauer und Scriba letztlich. „Verteilung der Arbeit durch kürzere Arbeitszeiten“, das klingt gut, vernachlässigt aber, daß viele Menschen auf den Verdienst aus einer Vollzeitarbeit angewiesen sind. Dessenungeachtet bleibt die aufklärerische Leistung des Buches. Noch in Kohls Regierungszeit erschienen, hat es nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Zudem erlangten einige Passagen eine ganz eigene Bedeutung: „Mit Gänsehaut sehen sie im Fernsehen, wie Arbeitsminister Norbert Blüm unter dem Gelächter der Opposition erklärt: ,Die Rente ist sicher‘.“ Mittlerweile ist klar, daß das Lachen der damaligen Opposition eine Drohung war.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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