Eine Rezension von Kathrin Chod


Komplett von A bis Z

Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE)
Herausgegeben von Walther Killy † und Rudolf Vierhaus.
Band 10: Thibaut-Zycha.

K. G. Saur Verlag, München 1999, 711 S.

Vor 46 Jahren erschien der erste Band der „Neuen Deutschen Biographie“, und in diesem Jahr konnte Band 19 (NAU-PAG) vorgelegt werden. Das Nachfolgewerk der „Allgemeinen Deutschen Biographie“ hat so trotz erwiesener Zuverlässigkeit ein großes Manko. Wenn seine letzten Bände im nächsten Jahrtausend auf den Markt kommen, wird ein recht umfangreicher Nachtrag fällig werden, um das letzte halbe Jahrhundert aufzuarbeiten. Andererseits hatte der beruflich oder privat Interessierte kein aktuelles allgemeines biographisches Nachschlagewerk zur Verfügung und war auf Enzyklopädien einzelner Fachgebiete oder Universallexika angewiesen. Diese Lücke konnte durch die nun komplett von A bis Z vorliegende Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE) geschlossen werden. Innerhalb von fünf Jahren gelang die gewaltige editorische Leistung, Informationen zu mehr als 60 000 Personen vorzulegen. Wie Walther Killy in seiner Einführung 1994 darstellte, wurden Personen aufgenommen, die von weitreichender Bedeutung auch für die nachfolgende Zeit sind, wie auch solche, die in ihrer eigenen Zeit großen Einfluß hatten. Die Auswahl umfaßt den gesamten deutschen Sprachraum einschließlich der deutschsprachigen Schweizer und Österreicher. Hinzu kamen, was erst im Nachwort zu Band 10 betont wird, „auch Ausländer ..., deren Lebensweg sie in deutsche Länder geführt und deren Werk sich in ihnen entfaltet hat“. Ein Großteil der Stichwörter sind telegrammartig kurz formuliert, andere sind ausführlichere Abhandlungen bis zu mehr als drei Spalten, bei denen der Name des jeweiligen Autors vermerkt ist. Bei diesen Beiträgen ließen die Herausgeber größere stilistische Freiheiten zu, so daß sie in der Schreibweise recht große Unterschiede aufweisen. Formuliert etwa Günther Schweikle streng wissenschaftlich über Walther von der Vogelweide: „Die bis dahin auf Gnomik, Didaktik und Panegyrik beschränkte Sprachlyrik... weitete W. zu einem publizistischen Organ“, so heißt es bei Peter Schumann recht pointiert über Tirpitz, der „ein guter Seemann, aber ein schlechter Politiker“ war: „Daß der 1898 gegründete ,Flottenverein‘ nach wenigen Jahren eine Million Mitglieder hatte, der ,Matrosenanzug‘ in der deutschen Kinderbekleidung zu dominieren schien, war nicht zuletzt ihm und dem ,shiplover‘ ... Wilhelm II. zu verdanken.“

Daß sich bei alldem auch Ungenauigkeiten einschleichen, kann kaum verwundern. Hans Uhlmann starb in Berlin (West), Ludwig Turek in Berlin (Ost) und Liselotte Welskopf-Henrich 1979 in Berlin. Während bei Österreichern und Schweizern die Herkunft bzw. Staatsangehörigkeit in der Dachzeile vermerkt ist, ist sie bei Ausländern oft nicht einmal im Text angemerkt (z. B. Henry van de Velde, Michael Voslensky). Bei einigen Personen scheint eine NSDAP-Mitgliedschaft erwähnenswert, etwa die kurzzeitige 1945 beim Amerikanisten Wirzberger, die vom Physiker Thiessen von 1925-1928 und ab 1933 dagegen nicht. Durch die lexikalisch knappe Form fallen natürlich auch wichtige Daten weg. Wobei nicht klar ist, warum etwa bei Luis Trenker Filme, in denen er lediglich als Schauspieler mitwirkte, aufgezählt werden, andererseits wichtige eigene Arbeiten wie „Der Rebell“ und „Der Berg ruft“ fehlen. Ähnlich bei Konrad Wolf, von dem es u. a. heißt, daß einer seiner größten Erfolge „Mama, ich lebe“ war. Der wesentlich erfolgreichere Film „Solo Sunny“ bleibt dagegen unerwähnt. Es entstehen auch Verkürzungen, die letztlich einem Lebenswerk nicht gerecht werden. So hat Inge von Wangenheim eben nicht nur „propagandistisch die Aufbaujahre des DDR-Sozialismus“ thematisiert, sondern in Die Entgleisung auch satirisch mit der Doppelmoral in der DDR abgerechnet. Zu Friedelind Wagner heißt es: Sie „wich“ 1939 nach England aus, kehrte 1953 nach Deutschland zurück, „versöhnte sich mit der Mutter und half den Brüdern Wieland und Wolfgang beim Neuaufbau der Festspiele“. Das erscheint dann doch zu kurz und sehr geschönt angesichts der Streitigkeiten insbesondere nach Wielands Tod 1966. Auch schrieb sie ihr Buch Nacht über Bayreuth 1944 und brachte es 1945 in deutscher Sprache heraus und nicht 1946.

Sicher der größte Diskussionspunkt einer derartigen Auswahl sind die unterschiedlich langen Texte und damit das doch recht verschiedene Gewicht, das den einzelnen Personen beigemessen wurde. Warum wurde Jakob Wassermann doppelt soviel Raum eingeräumt wie Kurt Tucholsky? Zumal Wassermann die nicht sehr schmeichelhafte Einschätzung (Gabriella Rovagnati) erhält, daß seine Werke „trotz Weitschweifigkeit und ästhetischer Mängel ihren Wert als Dokument ihrer Epoche“ besitzen, was man ja von ziemlich vielen Texten sagen kann. Manche Formulierungen sind für den Forscher einleuchtend, für den „normalen“ Nutzer aber wohl erklärenswert: „Irrtümlich wurde das Werk lange Zeit als Reflex des Falles Hau angesehen.“ Andere wieder muten etwas merkwürdig an. So wenn es zu Herbert Wehner heißt: „Auch wenn die schroffen sprachlichen Formen, die W. in den parlamentarischen Debatten häufig benutzte ..., die Tiefe der Brüche in seinem politischen Lebensweg sichtbar machten, blieb er in seiner Entscheidung für eine freiheitliche Ordnung fest.“

Interessant ist, welche Aufmerksamkeit einzelne Personengruppen in diesem Werk haben. Bei den ca. 90 Beiträgen von ungefähr einer Spalte und mehr wird wieder einmal klar, daß die Deutschen in erster Linie ein Volk der Dichter und Denker sind bzw. sich so sehen. Bei dem klaren Übergewicht dieser „Sparte“ bleibt für Unternehmer - vertreten sind Zeiss und Thyssen - wenig Platz. Auch Militärs erscheinen mit Wallenstein und Tirpitz vergleichsweise unterbewertet. Die Mehrzahl der längeren Biographien widmet sich Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts. Sind es noch zehn, die sich dem 18. Jahrhundert zuordnen lassen, betreffen lediglich sieben die vorhergehende Zeit. Drei Frauen wurde größerer Platz zugestanden: Rahel Varnhagen, Marianne Weber und Helene Weigel. Interessant ist, daß acht österreichische, vier Schweizer und zwei DDR-Biographien (Walter Ulbricht, Helene Weigel) bei den längeren Beiträgen vertreten sind.

Die Trefferquote beim Auffinden wichtiger DDR-Biographien ist recht hoch. Sicher fehlen einige, erwähnt werden könnten etwa Michael Tschesno-Hell, Johanna Töpfer, Fred Wander. Bedenklicher ist jedoch etwas anderes. Politiker wie Herbert Warnke oder Harry Tisch erhielten eine zwar knappe, dafür aber recht wertfreie Darstellung ihres Lebens, Schriftsteller wie Arnold Zweig hingegen werden als „Ja-Sager“ eingestuft, so daß sie letztlich schlechter als besagte Politiker „wegkommen“. Zu Harry Tisch fragt man sich übrigens auch, was wohl ein „Funktionär der IG Metall in der Landesleitung Rostock“ war.

Das alles jedoch stellt nicht das Verdienst dieser Ausgabe und seiner Herausgeber in Frage. Sie haben ein Werk vorgelegt, das in Deutschland in diesem Jahrhundert einzigartig ist und an dem in Zukunft niemand vorbeikommt. Und es gelang ein Beitrag zu dem, was Walther Killy mit einem Zitat Schopenhauers als Anspruch formulierte: „... das Andenken des Wichtigsten und Interessantesten, die Hauptbegebenheiten und Hauptpersonen aus dem allgemeinen Schiffbruch der Welt zu retten“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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