Eine Rezension von Eberhard Fromm


„Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie“

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen
  Die Sprache (1923), Bd. 1, 300 S.
  Das mythische Denken (1924), Bd. 2, 311 S.
  Phänomenologie der Erkenntnis (1929), Bd. 3, 560 S.
  Index (1931), 92 S.
  Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 230 S.

Primus Verlag, Darmstadt 1997

 

Reprographische Nachdrucke sind angebracht, wenn es einerseits einen Bedarf für das Werk aus früheren Jahren gibt und andererseits eine Neuausgabe mit einem zu großen zeitlichen und finanziellen Bearbeitungsaufwand verbunden ist. Natürlich gibt es auch die Reprints bibliographischer Kostbarkeiten, aber die erfüllen ja andere Bedürfnisse.

Das hier in einem Schuber vorliegende Werk Philosophie der symbolischen Formen beinhaltet die drei Bände, die der Autor unter diesem Begriff zusammengefaßt hat, dazu einen Index-Band, der von Hermann Noack bearbeitet wurde, sowie eine Sammlung von vier Aufsätzen aus der Zeit zwischen 1922 und 1938. Der Nachdruck beruht auf der 2. Auflage des Hauptwerkes, wobei durch Schrägstriche im Text die Seitenzählung mit der Erstausgabe in Übereinstimmung gebracht werden kann.

Der Philosoph Ernst Cassirer (1874-1945) war ein Schüler von Hermann Cohen (1842-1918), der die Marburger Schule, eine der Hauptrichtungen des Neukantianismus, begründet hat. Cassirer lehrte anfänglich in Berlin, dann von 1919 bis 1933 in Hamburg. Er emigrierte nach Schweden, wo er in Göteborg lehrte. Gestorben ist er in den USA. Er forschte sowohl auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie als auch auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte, wovon zum Beispiel seine Arbeit Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft zeugt. In den zwanziger Jahren gab er die Werke von Immanuel Kant heraus. Sein theoretisches Hauptwerk wurde jedoch die Philosophie der symbolischen Formen, an dem er lange Jahre arbeitete und das in drei Bänden zwischen 1923 und 1929 erschien. Cassirer hatte sich früh mit Erkenntnisfragen der Mathematik und der Naturwissenschaften befaßt (Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910). Als einer der ersten zeitgenössischen Philosophen untersuchte er die Relativitätstheorie von Albert Einstein (Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, Berlin 1921). Bei diesen Untersuchungen stieß er verstärkt auf spezifische Erkenntnisprobleme in den Geisteswissenschaften. In konsequenter Ablehnung einer „naiv-realistischen Abbildtheorie“, wonach auf der einen Seite eine objektive Welt existiert, die sich auf der anderen Seite im erkennenden Subjekt widerspiegelt, vertrat Cassirer die Position, daß alle Objektivierung Vermittlung ist. Der Gegenstand der Erkenntnis kann immer nur durch das Medium einer „eigentümlichen logischen Begriffsstruktur“ erfolgen. Es kommt also darauf an, die ganze Vielfalt des Wiß- und Kennbaren zu erfassen, wobei dabei die Gefahr drohe, daß alles in einer Mannigfaltigkeit des Seienden zerfließt. Dagegen fordert Cassirer nun von der Philosophie, zu fragen, „ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderen Disziplinen die Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfaches Nebeneinander zu denken sind oder ob sie sich als verschiedene Äußerungen ein und derselben geistigen Grundfunktion verstehen“. („Die Sprache“)

Auf diese zentrale Frage eine Antwort zu suchen, ist das eigentliche Anliegen der Philosophie der symbolischen Formen. Sie will jede geistige Tätigkeit untersuchen, in der sich der Mensch seine Welt in ihrer Gestaltung und Ordnung aufbaut. Dazu müssen die verschiedenen Bereiche detailliert untersucht werden. „Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur, die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Kunst, die Religion werden so, bei all ihrer inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs - zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen E i n d r ü c k e , in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen A u s d r u c k s umzubilden.“ („Die Sprache“)

Bei der Untersuchung einer solchen „Formenlehre“ des Geistes beginnt Cassirer mit der Sprache, wobei er die umfänglichen Forschungsergebnisse der Sprachwissenschaften nutzt, um seine Sprachphilosophie, seine „Phänomenologie der sprachlichen Form“, zu entwickeln. Im zweiten Schritt wendet er sich dem mythischen Denken zu. Ausführlich begründet er, warum er eine solche Kritik des mythischen Bewußtseins benötigt. Man kann, so Cassirer, das Hervorgehen aller einzelnen Bereiche des Geistes aus dem mythischen Bewußtsein nicht begreifen, wenn der Mythos als unbegriffenes Rätsel und gestaltloses Chaos interpretiert wird. Daher analysiert Cassierer den Mythos als Denk-, Anschauungs- und Lebensform. Im abschließenden dritten Teil, der „Phänomenologie der Erkenntnis“, soll die systematische Konsequenz aus den Ergebnissen der ersten beiden Teile gezogen werden. Es geht darum, die Schicht der begrifflichen Erkenntnis mit jenen geistigen Schichten zu „unterbauen“, die bei der Analyse der Sprache und des Mythos aufgedeckt worden sind. Im Rückgriff auf Hegel zeichnet Cassirer das Bild von der Erkenntnis als einer Leiter, die dem Menschen gereicht wird, damit er sich von den unteren Stufen des unmittelbaren Bewußtseins bis zur „reinen Erkenntnis“ hinaufbewegen kann. Dabei ist jede Sprosse der Leiter von Bedeutung, keine ist entbehrlich, „wenn es sich darum handelt, die Erkenntnis nicht sowohl in ihrem Ergebnis, in ihrem bloßen Produkt, sondern in ihrem reinen Prozeß-Charakter ... zu verstehen“. („Phänomenologie der Erkenntnis“)

Der Band „Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs“ enthält vier kleinere Arbeiten zum Thema des mythischen Denkens und des Symbolbegriffs. Sie können zum Einlesen in die Problematik genutzt werden. Der Index-Band stellt für die wissenschaftliche Arbeit mit den Texten eine wertvolle Ergänzung dar.

Wie immer bei reprographischen Nachdrucken dieser Art wird auf eine aktuelle Einführung in das Werk, eine biographische und bibliographische Vorstellung des Autors, eine Wertung der Texte bzw. ihre Einordnung und Stellung innerhalb der Philosophie ihrer und unserer Zeit verzichtet. Insofern bleiben solche Nachdrucke zumeist dem Spezialisten vorbehalten, also in unserem Fall dem Philosophiehistoriker, der sich mit Cassirer oder mit dem Neukantianismus beschäftigt; dem Sprachphilosophen und dem philosophisch interessierten Sprachwissenschaftler und nicht zu vergessen, was gerade heute bedeutungsvoll sein kann, dem Kulturwissenschaftler. Denn Cassirer verstand sein Werk als eine „Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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