Eine Rezension von Manfred Lemaire


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Nützlich und erfreulich

 

Christa Wolf: Hierzulande. Andernorts
Erzählungen und andere Texte 1994-1998.

Luchterhand Literaturverlag, München 1999, 223 S.

 

An Christa Wolfs Literatur, jedenfalls am vorliegenden Band, zeigt sich, daß man die Erkenntnis des großen Horaz (65-8 v. Chr.) über die Dichter durchaus abänderlich sehen kann. Sie wollen, meint er, „nützen oder erfreuen“ (Aut prodesse volunt aut delectare poetae, ars poetica, 333). Entweder - oder? Das ist zu streng. In einem Werk, ja mit einer kurzen Geschichte kann durchaus beides geboten werden. Das finden wir schon im ersten Text dieses Buches, das zwanzig ganz verschiedene Arbeiten enthält: „Begegnungen Third Street“, Eindrücke und Reflexionen aus Los Angeles, Begegnungen mit Menschen und mit sich selbst, aus Christa Wolfs Zeit in den USA (Erstveröffentlichung in „Neue Deutsche Literatur“, Heft 2/1995).

Da ist - nur ein Beispiel - die winzige Skizze, anderthalb Dutzend Druckzeilen, über eine Fahrt im Blue Bus Line 20 of Santa Monica, „der den ganzen endlos langen Wilshire Boulevard unter seine Räder nimmt und in dem die ärmeren Leute sich sammeln, die nicht mit eigenen Autos fahren“. Christa Wolf beschreibt die Leute, sie werden mit wenigen Worten zum Anschauen, und an jeder Station fällt ihr auf, „wie viele Leute schlecht laufen und nur mit Mühe ein- oder aussteigen können“. Davon beeindruckt, gibt sie sich schließlich Mühe, beim Aussteigen aus dem Bus nicht zu hinken, obwohl sie offenbar selbst Beschwerden hat.

Eigentlich keine erfreuliche Geschichte über die armen Leute da in Los Angeles und eine Christa Wolf, die schlecht zu Fuß ist. Doch diese kleine Skizze nützt uns und erfreut uns zugleich, weil sie Wahrheit und Dichtung vereint, ein Stück Alltag, meisterlich eingefangen mit einer einfachen, fast spröden Sprache. Plötzlich kennen wir das berühmte Los Angeles ein wenig, gar nicht so wenig, und freuen uns darüber, wie jemand mit Worten umgehen kann.

Die Mehrzahl der zwanzig Texte wurde bereits publiziert. Die Erzählung „Wüstenfahrt“, ebenfalls aus der Zeit in den USA, erscheint gleichfalls 1999. Die Totenrede für Lew Kopelew, „Mit dem absoluten Sinn für Toleranz“, gehalten zur Trauerfeier im Juni 1997 in Köln, ist offenbar bisher unveröffentlicht. Ebenso „Was tut die strenge Feder? Rede zur Namensgebung der Franz-Fühmann-Schule in Jesering/Brandenburg am 27. 4. 1994“. Der Ortsname ist im hier zitierten Textnachweis falsch geschrieben, es handelt sich um Jeserig, in der Rede steht es richtig. Den Textnachweis, vulgo: Inhaltsangabe, am Ende des Bandes hätte man als Dienst am Leser mit Seitenzahlen versehen sollen.

Diese Ansprache vor Schülern, Lehrern, Eltern aus dem kleinen Ort im Landkreis Brandenburg und seiner Umgebung fällt etwas aus dem Rahmen des Sammelbandes, was die Diktion betrifft. Die Schriftstellerin redet zu jungen Leuten, um deren Verständnis bemüht, mit Worten, die man beim Hören sogleich aufnehmen kann, während ihre Prosa sonst des aufmerksamen Lesens bedarf. Und doch fügt sich die Rede in die anderen Beiträge ein, weil sie - wie alle anderen - der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dient, der deutschen und vor allem der ostdeutschen, mit „dem Prozeß der Entwicklung in diesem Land DDR“, wie Christa Wolf in der Laudatio zu Ehren des Schriftstellerkollegen und Freundes Franz Fühmann sagt, für den es gar nicht in Frage gekommen wäre, „sich auf solche Weise ehren zu lassen“. Nützlich für ihre Zuhörer und Leser, was sie da immer wieder zu jüngster Vergangenheit vorträgt, ein Thema, das sie wohl nie loslassen wird, in des Wortes doppelter Bedeutung. Und erfreulich, wie sie es ausdrückt, jedes Wort überlegt, jeder Satz wohlgefällig gefügt. Eine Freude, es nun zu lesen.

Eine Freude auch, die öffentliche Gratulation zum 65. Geburtstag von Günter Gaus in geschliffener, schon eleganter Form zu lesen (erschienen in „Freitag“, 18. 11. 1994). Und wieder ist da zugleich die nützliche, von jeder Belehrung freie Hinwendung zu deutscher Politik am Ende dieses Jahrhunderts, zum Beispiel zum „Kampf um die Macht in der Gegenwart“, der „in der Maske der Vergangenheitsbewältigung“ tobte und tobt, „natürlich nur die der DDR, der andere deutsche Staat hatte ja keine Vergangenheit“. Christa Wolf bleibt beim Thema, ob es in „Winterreise“ ist, Wolfgang Heise zum Gedenken geschreiben, („Sinn und Form“ 6/1995), oder in „Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest“, zum 80. Geburtstag des Heinrich Böll gesprochen. „Seine nachdenkliche, behutsame, ja, seine gerechte Stimme hat sehr gefehlt“ in den Prozessen, die zur Vereinigung führten, „und sie fehlt weiter - auch in dem mühsamen Verständigungsprozeß der Intellektuellen“ (in Jahresgabe 1997/98 von Luchterhand).

Die zwanzig Beiträge, unterschiedlich nach Anlaß und Inhalt, lassen unzweideutig erkennen, daß Christa Wolf, wo immer und wie immer sie das Wort nimmt, als politisches Wesen spricht, bemüht um Selbstverständigung und um Verständigung mit ihren Mitmenschen über die deutschen Dinge. Sie will damit nützen. Und sie wäre keine Schriftstellerin aus Passion, wollte sie nicht dem Leser darüber hinaus etwas geben. Sie tut es, indem sie ihm ein Vergnügen bereitet: zu erleben, wie in einem Alltag der Amerikanismen die deutsche Sprache gepflegt werden kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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