Eine Rezension von Helmut Hirsch


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Halb Traum, halb Märchen

 

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl.

Carl Hanser, München 1998, 67 S.

 

Fernando Pessoa (1888-1935) ist berühmt und unbekannt. Spät erst wurde sein umfangreiches Werk ediert. Schon 1928 hatte er verkündet, daß er der Erfinder von drei Dichtern sei, die unter ihrem eigenen Namen schrieben. Er empfahl, sie zusammen zu lesen, so erst entstehe „ein dramatisches Ganzes“. Das Buch der Unruhe, vielleicht das bekannteste Buch, erzählt vom Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, und es wird darin sogleich die eigentümlich nachtwandlerische Spannung wach, die den Grat zwischen Traum und Märchen bezeichnet. „In der Kunst“, schreibt Pessoa-Soares, „gibt es keine Enttäuschung, weil die Täuschung von Anfang an inbegriffen war.“ Pessoa hat diese Verwandlungsfähigkeit in allen seinen Prosa- und Gedichtbüchern immer wieder variiert. Als er 1935 starb, hinterließ er eine Truhe voll von Manuskripten, mehr als zwanzigtausend Seiten. Vieles blieb Fragment, wie sein Leben selber. Aber aus den Fragmenten stiegen seine Figuren, seine Heteronyme hervor: „Ich vervielfachte mich, um mich zu fühlen.“

Literatur entsteht nicht nur aus den Erlebnissen eines Ichs. Sie entsteht auch aus Begegnungen von Autoren. Der 1943 in Pisa geborene Antonio Tabucchi lehrt nicht nur portugiesische Sprache und Literatur, er hat auch eine große Neigung zu „seinen“ Autoren, unter ihnen ist Pessoa sein Liebling. 1992 veröffentlichte er Wer war Fernando Pessoa?, drei Jahre später Erklärt Pereira, dessen Verfilmung wunderbar gelang. Jetzt hat er Die letzten drei Tage im Leben des Fernando Pessoa zu einer traum- und märchenhaften Erzählung geformt. Eine ganz seltsame Atmosphäre: Mitten im Sterben erscheinen die von Pessoa erfundenen Geschöpfe am Bett ihres Erfinders. Es sind Abschiedsbesuche, Nachtbesuche. Álvaro de Campos ist der erste, unter seinem Namen erschienen Gedichte. Von der Liebe und von der Schlaflosigkeit ist die Rede, von unterlassenen Träumen und von allem, was war und doch nicht gewesen ist. Die Wirklichkeit „entschlüsseln, als ob sich die Wirklichkeit entschlüsseln ließe“, seufzt er am Bett des Sterbenden, und so gesteht ein Erfundener im Namen Tabucchis dem Autor seine Verzweiflung. Eine Verzweiflung, der es bedarf, soll Poesie entstehen.

Sie haben alle etwas mit ihrem Erfinder zu besprechen, das ruhelos macht, wozu die Geisterstunde nach Mitternacht am besten geeignet scheint. Ist es die Lust am Leben und am Schreiben oder ist es die Furcht vor dem bevorstehenden Ende? Die Gedanken in diesen letzten Gesprächen sind von Tabucchi fein erfunden. Er hat die Fäden der Phantasie aus dem Leben des Portugiesen aufgenommen und zu Denk-Bildern gemacht. Gegenüber dem erfundenen Bernardo Soares meint Pessoa, er habe von einem Mann gehört, „daß die Götter zurückkehren werden, denn diese Geschichte von dem einzigartigen und dem einzigen Gott sei etwas Vorübergehendes, das nach einem kurzen historischen Zyklus bald von etwas anderem abgelöst werden würde. Und sobald die Götter zurückkehrten, würden wir die Einzigartigkeit der Seele verlieren, und unsere Seele würde wieder vielfältig sein können, wie es der Natur entspricht.“

Eine tiefe, eine ernste Sehnsucht nach einem anderen, einem der Natur ganz gemäßen Leben. Halb Traum, halb Märchen, der Wunsch, der nie in Erfüllung gehen wird, was Pessoa weiß, was seine Figuren wissen und auch Tabucchi. Der, weil er es weiß, eine so knappe Geschichte in Situationen erzählt, die sagen wollen, ja, das gibt es alles nicht, aber das ist der Traum, der uns am Leben erhält, und sei es nur noch wenige Stunden. Es ist der Traum der Poesie, der aus dem widerborstigen Leben hervordringt. Auch jener Autor, der die Rückkehr der Götter erzählt hat, erscheint an Pessoas Bett. Und es ist von der berühmten Truhe die Rede, in der die vielen, zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskripte ruhen: „Inzwischen“, sagt Pessoa, „ist es eine Truhe voller Menschen, und die Personen lassen sich nur ungern darin einsperren.“

Der Glaube an die Poesie läßt sie alle den Tod vergessen, und António Mora, als letzter der Figuren am Bett des sterbenden Pessoa weilend, versucht alles in den Kreislauf der Natur einzubeziehen. Auf „Vater Lukrez“ verweisend, erzählt Mora: „Ich habe begriffen, daß alle Atome, aus denen wir bestehen, diese winzig kleinen Teilchen, die unseren derzeitigen Körper ausmachen, in den ewigen Kreislauf zurückkehren und Wasser, Erde, fruchtbare Bäume, Pflanzen sein werden, das Licht, das uns sehen läßt, der Regen, der uns benetzt, der Wind, der uns durchrüttelt, der weiße Schnee, der uns im Winter mit seinem Mantel umhüllt.“

Der Traum vom Abschied schließt den Traum (das Märchen) von der Rückkehr mit ein. Der Abschied verläuft kurz, unaufdringlich eindringlich werden kleine und ganz wichtige Dinge über Leben und Tod, Liebe und Poesie, Natur und Traum ausgetauscht. Alles ist flüchtig, alles ist phantastisch, eben wie im Traum. In dem es auch Wolken gibt, „ein zerstörter Übergang zwischen Himmel und Erde ... gewittrig oder auch nicht; ihr Weiß erfreut, ihr Schwarz verdunkelt, sie sind Fiktionen des Zwischenraums und der Wegabweichung, fern vom Getöse der Erde und doch ohne die Stille des Himmels“.

Ein Buch der Zwischenräume, ein Buch aus Traum und Leben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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