Eine Rezension von Hans Rainer


Der verzweifelte Verbrecher und seine schwangere Kindsbraut

Jacquelyn Mitchard: Das Land der Liebe
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld.

Limes Verlag, München 1999, 480 S.

 

Ich hatte erst erwogen, „Braves Mädchen, schlimmer Junge“ als Überschrift zu wählen, das wäre kurz und treffend gewesen, schien mir dann aber doch das Thema zu banalisieren. Das Land der Liebe dagegen ist ein ganz und gar nichtssagender Buchtitel, er klingt zudem süßlich nach Lehár. Aber daran ist die Autorin nicht schuld; bei ihr heißt es nämlich The Most Wanted, und das läßt Raum für die Veränderung der Wünsche und Zielvorstellungen der Heldinnen entsprechend ihren Lebenserfahrungen.

Das Buch führt uns nach Texas, und es geht um zwei Frauen, Arley (14) und Annie (40), die ihre Lebensgeschichten, sich Kapitel für Kapitel abwechselnd, erzählen. Erst verlaufen die Storys parallel, dann tangieren sie einander, am Ende verschlingen sie sich zu einer gemeinsamen Geschichte. Das strukturiert das Buch geschickt und interessant, zumal die Rechnung zwanglos, lückenlos und ohne Krampf aufgeht.

Arley ist Schülerin, leidlich hübsch, sportlich, klug, zielstrebig und fest entschlossen, aus ihrem Leben trotz trostloser Umwelt etwas zu machen. Ihre Mutter führt ein hartes, herzloses Regiment, sie ist bar jeder Anteilnahme oder irgendeines Interesses an der Tochter. Da sind Schule und Job Zufluchten, nicht unangenehme Last. Solcherart in die Pflicht genommen, ist Arley ernst, verantwortungsbewußt und frühreif geworden. Aufgrund einer Art Schulwette beginnt sie eines Tages einen Briefwechsel mit einem Häftling. Es ist Dillan (23), der wegen bewaffneten Raubüberfalls zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde (zwei Jahre sind bereits abgesessen, nach zwei weiteren hätte er bei guter Führung Aussicht auf Entlassung). Dillan ist ein hübscher Kerl, er ist höflich, klug, empfindsam, schreibt interessante Briefe und Gedichte. Arley, hungrig nach Zuwendung, lernt in ihm den ersten Menschen kennen, der sich aufrichtig für sie interessiert und der sie braucht. Sie verliebt sich, und ihre Liebe wird leidenschaftlich erwidert. Arley besucht Dillan und heiratet ihn schließlich. Um die Hochzeitsnacht vor Gericht zu erstreiten, wendet sie sich an Annie, die Anwältin. Aber die erste und einzige Liebesnacht führt zur Schwangerschaft. Die Mutter setzt Arley daraufhin auf die Straße. Annie nimmt Arley bei sich auf. Dillan, offenbar verzweifelt, bricht aus dem Gefängnis aus, dringt bei Arleys Mutter ein, findet in Arleys Zimmer aber nur Langtry, die ältere Schwester. Mit ihr geht er auf und davon, wird ein gefürchteter Bandit, der die Gegend mit Raubzügen und Überfällen verunsichert. Arley, die inzwischen entbunden hat, in den Pflichten und Freuden der Mutterschaft aufgeht und sich aufs College vorbereitet, wird an einem geheimen Ort abgeschirmt. Gefühlsmäßig hat sie sich von Dillan im gleichen Maße gelöst, wie das Baby für sie das Wichtigste überhaupt auf der Welt wird. Aber die Schwester spürt das Versteck auf. Als Langtry erkennen muß, daß Dillan nicht nur das Baby entführen will, sondern nach wie vor an Arley hängt, erschießt sie ihn.

Annie, tüchtig, umsichtig, ansehnlich, ist Leiterin eines Anwaltsbüros für verfolgte, gefährdete und benachteiligte Frauen. Seit über zehn Jahren lebt sie mit Stuart, einem Strafverteidiger, zusammen, aber Eheschließung und Kinderwunsch wurden trotz harmonischer und bedingungsloser Kameradschaft immer wieder aufgeschoben. Wie diese Bindung sich allmählich löst, ist Gegenstand ihrer Geschichte. Sie kauft ein altes, heruntergekommenes Haus und läßt es von Charley, einem Allround-Handwerker, instand setzen. Charley ist zehn Jahre jünger, kein geistiger Partner, aber ein ausgeglichener, naturverbundener Mensch, der sie auch körperlich anzieht. Inzwischen macht Stuarts Anwaltsbüro dicht, und er muß ein Stellenangebot in Miami annehmen. Am meisten verändert jedoch Arley das gewohnte Leben. Annie nimmt das Mädchen wie eine Tochter auf und sorgt für sie und das Baby mit aufopfernder Liebe. Zwischen den Frauen entwickelt sich eine tiefe Beziehung. Erst jetzt zeigt sich, daß die Bindung an Stuart diesen Belastungen nicht gewachsen ist. Annie zieht nicht nach Miami, sondern mit Charley und Arley in das bewohnbar gemachte Haus.

Jacquelyn Mitchard war Zeitungsreporterin und Kolumnistin, bis sie zur Schriftstellerei wechselte und vor zwei Jahren mit dem Roman Tief wie der Ozean (inzwischen auch verfilmt) ihr Debüt gab („Berliner LeseZeichen“ 9/97). Schon damals stellte sie sich als ein ausgeprägtes Erzähltalent vor, dem es weniger um äußere Geschehnisse als vielmehr um psychische Prozesse geht, das, bedächtig und unspektakulär erzählend, sich lieber dem Innenleben der Akteure zuwendet und die dortigen Vorgänge sehr genau, tiefgehend, ehrlich und differenziert schildert. Auf diesem Wege ist sie in ihrem zweiten Roman nun vorangekommen, wobei die Fähigkeit, den Stoff klug zu strukturieren, vorteilhaft zu Buche schlägt. Wie in der minderjährigen Arley mit Macht eine vorurteils- und selbstlose tiefe Liebe zu Dillan aufkeimt, sie in aller Unschuld nahezu überwältigt, wie sie vom Erlebnis der Sinnlichkeit umgeworfen und berauscht wird und doch imstande ist, ethische Grenzen zu ziehen, wie sie die Geburt erlebt und durchleidet und die ganze Zuneigung und Hingabe, die sie selbst als Kind nie erfahren hat, nun dem Baby darbringt, das ist wirklich meisterlich und überzeugend eingefangen. Auch die altersmäßige Ausnahmesituation wird plausibel begründet, wenngleich die Zustimmung der Mutter zur Eheschließung verwundert (zuvor gab es immerhin sogar Probleme, ihr Einverständnis für die Aufnahme eines Nebenjobs als Kellnerin zu erlangen). Daß Arley nie im jugendlichen Szenejargon spricht, soll wohl ihre Frühreife und ihr nicht kindgemäßes Außenseitertum signalisieren. So bedient sie sich nur einer knappen, spröden Ausdrucksweise und wahrt mit ernstem, fast scheuem Ton ihre Aura.

Nicht so gut ist der Beginn der Freundschaft von Arley und Annie motiviert. Was die Anwältin veranlaßt, alles in ihrem Leben, Stuart und die ganze Kanzlei, beiseite zu schieben und nur noch für die Räuberbraut - die sich natürlich als rührend schutzloses Mädchen darstellt - da zu sein und in allen Belangen einzuspringen, bleibt doch ein wenig offen. Bei der Spezifik dieser Kanzlei und ihrer Kundschaft kann ein Fall wie dieser kaum absolute Ausnahme sein. Der weitere Fortgang freilich befriedigt und überzeugt dann durchaus. Daß Schicksalsschläge und unerwartete Ereignisse auch gewachsene und bewährte Beziehungen hart auf die Probe stellen und Lebensziele und Wünsche verändern können, ist dem Leben durchaus abgelauscht.

Die meisten Fragen bleiben bei Dillan offen. Wie kommt dieses Rauhbein aus kriminellem Umfeld und ungebildeter Familie, das noch nicht ganz trocken ist hinter den Ohren, zu solch altmodischer Sensibilität, zu solch intellektueller und poetischer Größe? Seine Briefe unterschreibt er mit „Dein gehorsamer Diener“, Sätze wie „Ich kann den schäbigen Umgang mit Gefühlen nicht ertragen“ sind keine Seltenheit, und seine Gedichte werden auch nach seinem Tode noch gedruckt. Täuscht er bei Arley mehr vor, als er wirklich fühlt, oder ist er tatsächlich von ihr überwältigt? Minderjährige Mädchen hat er wohl zuvor in Massen vernascht und dabei auch einen Selbstmord in Kauf genommen. Versucht er nun, mit Selbstmitleid und Einsamkeitsmasche Interesse auf sich zu ziehen? Im Gefängnis gilt er als hilfsbereit und kooperativ, nach dem Ausbruch aber hat er keine Skrupel niederzuschießen, was sich ihm in den Weg stellt.Woher wohl stammen diese Gewalttätigkeit und Zerstörungswut? Ist er nur fehlgeleitet, aber mit guten Anlagen begabt, ein krankhafter Psychopath oder ein todbereiter verzweifelter Mensch, der die Einsamkeit der Zelle nicht mehr zu ertragen vermag? Ich weiß nicht, ob ich diese Unbestimmtheit zum Mangel des Romans erklären soll. Vielleicht hat es die Autorin bewußt darauf angelegt, den Leser in der gleichen Unsicherheit der Bewertung zu halten wie Arley?

Daß es für Arley am Ende ein Happy-End gibt, sei ihr von Herzen gegönnt. Daß sich aber überraschend noch ein Vater einfindet, der ihren Weg von weitem verfolgt hat, wirkt übertrieben und schon märchenhaft - auch wenn es sich um einen alten, verrückten Waldschrat handelt, mit dem wenig Staat zu machen ist. (Wenn die wesentlichen Fragen der Heldin geklärt sind, muß man ja nicht auch noch ihre Rentenansprüche klären.)

Im ganzen jedoch ist das Buch durchaus bewegend und empfehlenswert, zumal Margarete Längsfeld (wie schon bei Tief wie der Ozean) wieder eine adäquate Übersetzung geschaffen hat. Freilich sind ihr dabei auch einige Fehler unterlaufen. Daß zum Beispiel niemandem im Verlag aufgefallen ist, daß nicht weniger als fünfmal von Rehabilitierung die Rede ist, wo die Autorin Resozialisierung (zu Recht verurteilter Gefängnisinsassen nämlich) meint, ist doch merkwürdig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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