Eine Rezension von Volker Strebel


Mein Schiff, mein Schweigenbrecher

Henri Michaux: Passagen
Aus dem Französischen von Dieter Hornig/Elisabeth Walter.

Literaturverlag Maximilian Droschl, Graz 1999, 168 S.

 

Passagen wird diese Sammlung von Assoziationen und Gedanken betitelt, die als erweiterte Neuausgabe 1963 bei Gallimard erschienen ist. Der österreichische Droschl-Verlag, der bereits einige Bücher von Michaux vorgelegt hat, präsentierte diese Ausgabe pünktlich zum hundertsten Geburtstag von Henri Michaux am 24. Mai 1999.

Walter Benjamins Parisaufenthalte haben gezeigt, daß aus architektonischen „Passagen“ ein semiotisches Konzept werden kann. Ein in Stein und Glas, Beton und Mauern geronnenes Programm hellsichtiger Vorhaben, verruchter Nischen und bunter Spielereien.

Und vom großen französischen Sprachwissenschaftler Roland Barthes wissen wir, daß er den letztlich ungreifbaren inneren Ablauf erlebter Lektüre mit dem Abschreiten von „Avenuen“ umschrieb - groß angelegt und potentiell vielseitig erlebbar.

Henri Michaux’ Wahrnehmung läßt einmal mehr an im höchsten Maße gespannte Pfeile erinnern, die beim geringsten Anlaß ihren Weg ins Freie finden. Eine ungewöhnliche Fülle von Assoziationen vermögen Michaux’ Texte in den Zustand eines schwebenden Mobilé zu versetzen - die einsetzende Wirklichkeit bringt dieses Gebilde, zugunsten des Lesers, in ein mehrdimensionales Schwingen. Michaux’ Leser sind Teilnehmer - Miteinbezogene- einer offen vorgenommenen Verschwörung gegen die sogenannten Wirklichkeiten.

Michaux reizt vorhandene Räume aus, indem er deren Dimension bis in die entlegensten Winkel durchläuft. Mit einer sinnlichen Lust fächelt er sich dabei die vertikalen Visionen zu. So erklärt sich auch, daß Michaux sich der Musik öffnet - daß er nicht nur schreibt, sondern auch zeichnet und malt: „Das Bücherlesen ist langweilig. Keine Freizügigkeit. Man wird aufgefordert zu folgen. Der Weg ist vorgezeichnet, ein einziger. Ganz anders als Bild: unmittelbar, total. Links, auch rechts, in die Tiefe, nach Belieben.“

An dieser Stelle begibt sich Michaux in die Gefahr einer Betriebsblindheit, zumindest seinen eigenen Texten gegenüber. Denn auch hier ermöglicht ein assoziativer Monolog ein freies Flottieren der Phantasie. Auch wenn Michaux über wirkliche Dinge, wie zum Beispiel seine Erinnerungen an eine Ausstellung von Paul Klee, schreibt, ist ihm bewußt, daß „wir in einer Welt der Rätsel leben, die sich ebenfalls nur mit Rätseln am geeignetsten beantworten läßt“.

Literatur liquidiert die Wirklichkeit, indem sie sie übersteigt.

Der junge Michaux war nicht umsonst von der Begegnung mit der Poesie Lautréamonts nachhaltig geprägt. Er hatte ein abgebrochenes Medizinstudium hinter sich, war Matrose gewesen und hatte exotische Länder kennengelernt. Und in den späteren Jahren hatte Henri Michaux - ähnlich wie Ernst Jünger - versucht, einen künstlerischen Nutzen aus bewußtseinserweiternden Drogen zu ziehen. Aus der Distanz zeigt sich die Besessenheit, einen Urschlüssel für all die Dinge zu finden, die das menschliche Leben ausmachen. Michaux war ein Suchender mit wachen Sinnen, die ihn empfänglich machten für Erlebnisse, die das unreflektierte Dasein übersteigen.

Kein bloßes Spiel animierte Michaux zu seinen Texten: „Aufrichtig? Ich schreibe, damit das, was wahr war, nicht mehr wahr sei. Ein gezeigtes Gefängnis ist kein Gefängnis mehr.“

Alles ist immer auch nur scheinbar da, und dies gewährt die Möglichkeit einer Relativierung des Ganzen. Michaux jongliert mit der Welt, als wären seine Gedanken die eigentlichen Bälle. Er dreht und wendet die Dinge so lange, bis der Leser sie wie der Schriftsteller sieht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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