Eine Rezension von Bernd Heimberger


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Weltniveau im Wahrsagen

 

Andreas Maus/Burkhard Peter: Drüben
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, 214 S.

Peter Pragal/Eckart D. Stratenschulte: Der Monolog der Lautsprecher und andere Geschichten aus dem geteilten Berlin
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, 185 S.

 

Alltag ist alles! Alles ist Alltag! Wie das verstehen? In der Betonung ist die Aussage. Dem guten Glauben folgend, daß im Alltäglichen das Allgemeine ist, wurden in den neunziger Jahren eine Menge Anthologien zusammengestellt, die eine Menge ost-west-deutscher Geschichten zusammenschnürten. Wer hat in den angehäuften Anthologien eine gesichtet, deren Titel und Inhalt zum Begriff für die Zeitgeschichte wurde? Was uns seit einem Jahrzehnt zugemutet wurde, erwies sich oft als Zufälliges, das voller Beliebigkeit war und deshalb belanglos. Dafür den alltäglichen Buchalltag verantwortlich machen? Haben die Lektoren die Lektion nicht gelernt, daß nicht alles in einen Topf muß, was in einen Topf paßt? Es scheint nicht nur so! Eine gehörige Portion Skepsis ist also ein guter Schutz, wenn sich in den Jubiläums-Andachts-Wochen die „Alltagsgeschichten aus Ost und West“ wieder heftig vermehren. Die Skepsis steigt, wenn eine Anthologie zudem mit dem abgewetzten Titel Drüben auftritt.

Was war denn das „Drüben“? Für Menschen im sächsischen Freiberg zumeist das, was sie sich wünschten. Für Menschen im breisgauischen Freiburg zumeist das, was sie verwünschten. Oder auch nicht! Zumal, wenn einen das Drüben sowieso nicht um den Schlaf brachte. Weil man gut genug eingerichtet war in Freiberg wie Freiburg. Vielen war drüben das andere, das Unbekannte, das Unbegreifbare, das Ungewohnte, das Fremdbleibende. Ist mit Abstand gescheiter, darüber zu sprechen, was drüben war? Wie es war? Oder nur eine Einbildung, die aus Unwissenheit gebildet war? Offene Fragen! Gewiß ist, daß mit dem Abstand die Neugier nicht gewachsen ist, genauer wissen zu wollen, was das Drüben und Drüben war. Oder noch immer ist? Die Sprachlosigkeit ist die Barriere, die am beständigsten ist. Haben die Alleswisser von Allensbach und vergleichbaren Institutionen recht, so waren nach neunundachtzig 60 Prozent der Westdeutschen bzw. 30 Prozent der Ostdeutschen noch nie „drüben“. Wer war denn drüben in Freital oder drüben in Recklinghausen, als sich die politischen Kontinente nicht hinter den Ufern der Elbe verschanzten? Das Gros der Deutschen kam nie von Deutschland nach Deutschland. Muß das in Neo-Deutschland anders sein? Muß das anders werden? Warum sich jetzt erneut drüben und drüben umsehen, umhören, umtun? Weil das Drüben nicht auszuradieren ist wie ein Bleistiftstrich?

Hinkt der Journalist Andreas Maus mit den von ihm veröffentlichten Drüben-Protokollen nicht der Vergangenheit hinterher? Die Gegenwart, die gemeinsam gemacht werden soll, ist nur aus und mit den Drüben-und-Drüben-Biographien zu machen. Also aus denen der Sportlerin hie und da, des Pfarrers hie und da, des Bauern hie und da, der Schauspielerin hie und da, der Familien hie und da sowie der ehemaligen Betriebsräte in Bischofferode und Rheinhausen. Der Journalist hat ein wohlüberlegtes Sprecher-Personal arrangiert. Die „Gegenüberstellung“ von Personen mit gleicher Profession sorgt nicht nur für eine stabile Struktur des Buches. Die Monologe fügen sich zu einem indirekten deutsch-deutschen Dialog. Die Biographien werden zu Beispielen, die sich dem Zufälligen entziehen, von der Beliebigkeit fernhalten und nicht in der Belanglosigkeit verdorren. Die Fotografien, die Burkhard Peter beisteuerte - insbesondere die Porträts -, sind nicht nur das Taschenbuchformat füllende Fotoecken. „Die Wiedervereinigung kommt in den neunziger Jahren“, wurde thüringischen LPG-Bauern im wahrsagefreien Land DDR prophezeit. Da haben die Bauern aber gelacht! Wenn, dann hatte die DDR ein Weltniveau im Wahrsagen, während die Profis des Gewerbes in der BRD völlig versagten.

Wem sagt das was? Sagt’s, daß drüben von drüben doch das eine oder andere lernen kann? Auch, daß drüben doch manches anders war, als man wollte, daß es ist? Es bedeutet nicht, irgendwem nachträglich einen Bären aufzubinden, wenn abermals der Fall des Kurt Neubauer bekanntgemacht wird. Mitglied des Bundestages, wohnte der Mann fast ein Jahrzehnt in Ost-Berlin, als dem noch nicht das trotzige Schild Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik umgehängt war.

Die Zeit der deutsch-deutschen Teilung brachte reichlich Besonderheiten hervor, die das Besondere des Besonderen bezeichneten. Im Getrennten zeigte sich auch das Gemeinsame. Zum Beispiel der ausgeprägte Hang nach Schutz und Sicherheit. Den DDRlern versprochen, gewährte die Mauer einer Westberliner Wochenend-Grundstücks-Gemeinschaft eine nicht zuvor, nicht danach gekannte Sicherheit. Eine Enklave wurde zu einem Paradies auf Erden. Eine der Besonderheiten. Von ihnen wurde berichtet. Manchmal. Einige Geschichten haben den kleinen Gipfel des Presse- und Filmruhms erklommen. Anfang der Achtziger vergnügte das westliche Kinopublikum die Komödie „Einmal Ku’damm und zurück“, deren Drehbuch die phantastische Berliner Geschichte geschrieben hatte. Der Journalist Peter Pragal und der Soziologe Eckart D. Stratenschulte haben einige Geschichten aufbewahrt, die sich während der Trennungs-Jahrzehnte in Berlin zutrugen. In der Stadt wird deutsche Geschichte immer am heißesten gekocht und gegessen. Manchmal hat sich mancher das Maul verbrannt. Die Autoren servieren mundgerecht, was sie auftischen. Mit didaktischer Neigung wird das Dokumentarische den Nachwachsenden mitteilsam-unterhaltend nahegebracht. Berlin tut gut. Als Lektion fürs Leben und Überleben in kritisch-bewegten Zeiten. Berlin war und ist ein Brennpunkt. Ein Ort zum Blenden, Erhellen, Verbrennen. Pragals und Stratenschultes Sammlung Der Monolog der Lautsprecher ist ein Wechselgespräch mit wahren Berliner Geschichten, die nicht nur für die Geschichte Berlins bestimmend waren. Heimatkunde also als Deutschlandkunde! Ohne Falschmünzerei. Hüben und drüben als Geschichte eines Ortes.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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