Eine Annotation von Helmut Caspar


Friedrich, Thomas/Hampel, Harry: Wo die Mauer war

Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1999, 131 S., 108 Abb.

 

Wer durch Berlin geht oder fährt, hat Schwierigkeiten, den Verlauf der Mauer auszumachen, die vor zehn Jahren, am 9. November 1989, fiel. Gelegentliche Markierungen im Straßenpflaster und durchlöcherte Reste des drei Meter hohen Betonungetüms helfen zwar da und dort bei der Orientierung. Doch eigentlich wird man kaum noch gewahr, wo Stacheldraht, Todesstreifen, diverse Sperranlagen, Signalzäune und die eigentliche Mauer mit rundem Abschluß an der Oberkante nun wirklich existiert haben. Optische Nachhilfe und viele Informationen über die am 13. August 1961 im Handstreich hochgezogenen Befestigungsanlagen vermittelt der deutsch-englisch abgefaßte Bildband. Fotograf Harry Hempel stellt in dem mit einem Kommentar von Thomas Friedrich sowie einer Übersichtskarte versehenen Bildband Situationen vor und nach 1989 gegenüber. Deutlich wird, daß die Berliner irgendwie und notgedrungen gelernt haben, mit der Mauer, die sich oft genug direkt vor ihren Fenstern erhob, zu leben. Um so stärker war der Ausbruch der Freude, als sie nach 10795 Tagen und Nächten gegenstandslos geworden war. Da Hampel seine Fotos aus fast immer dem gleichen Blickwinkel mit markanten Bauten wie dem Fernsehturm, dem Springerhochhaus oder Kirchen im Hintergrund aufgenommen hat, erleichtert er es dem „Wanderer“ durch Berlins neueste Geschichte, sich im völlig veränderten ehemaligen Niemandsland zurechtzufinden. Da der Fotograf die Mauer stets nur von westlicher Seite aufnehmen konnte, weil er sich mit seiner Kamera dem schwer bewachten Todesstreifen von östlicher Seite nicht nähern durfte und auch in den Übergangsstellen etwa am Bahnhof Friedrichstraße das Fotografieren verboten war, wo bedrückende Szenen des Wartens grauer Alltag waren, fehlen dem Bildband einige besonders bizarre Motive, die auch zum menschenverachtenden Mauerregiment gehörten. Eines zeigt das sehenswerte Buch aber auch so: Berlin wird noch lange Zeit brauchen, die ehemals leeren Räume menschen- und stadtverträglich zu füllen, sofern sie noch Brachen sind. Daher wird an verschiedenen Stellen - etwa im Bereich rund um die Heinrich-Heine-Straße, am Engeldamm und an der Bernauer Straße - noch auf Jahre der Verlauf der Mauer zu erahnen sein. Denn so schnell schießen hier die Neubauten nicht in die Höhe.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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