Eine Annotation von Eberhard Fromm


Mayer, Hans: Zeitgenossen

Erinnerung und Deutung.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 374 S.

 

Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907) erinnert sich in dieser Sammlung an Künstler seines Jahrhunderts, deren alphabetische Reihe von Theodor W. Adorno (1903-1969) bis Peter Weiss (1916-1982), von Arnolt Bronnen (1895-1959) bis Hans Werner Richter (1908) reicht. Die Beiträge stammen aus mehreren Jahrzehnten; entstanden sind sie zwischen 1952 und 1994. Erstmals veröffentlicht werden Artikel zu Alfred Döblin, Stephan Hermlin, Gustav René Hocke und Hans Henny Jahnn. Und natürlich das Vorwort „Leben im Anachronismus“ sowie die „Parabel vom Hungerkünstler“ am Schluß des Bandes.

Der Ton der jüngsten Beiträge ist verhalten pessimistisch. Schon einleitend denkt Mayer über jene Künstler nach, die aus ihrer Zeit herausgefallen sind, die anachronistisch wurden. Den „wohlbekannten Weg von der Innovation zur Antiquiertheit“ markiert er mit dem ernsten Hinweis, daß heute ganze Bereiche der Literatur des 19. und 20.Jahrhunderts nur noch von Fachleuten zur Kenntnis genommen werden. Und was die Wegwerfgesellschaft in all ihrer Eile noch nicht weggeworfen habe, besorgten die Denunzianten: „Wendezeiten sind fast immer gute Zeiten für Denunzianten, nicht allein im Bereich der Literatur.“ In der abschließenden „Parabel vom Hungerkünstler“ kommt Mayer in bezug zu Franz Kafka auf das Problem des Verlustes zurück, wenn er der Frage nachgeht, welche Möglichkeit eine Gesellschaft habe, ohne alle Kunst auszukommen; denn - so Mayer - alle von ihm hier behandelten Künstler gehörten zur bürgerlichen Gesellschaft - eben die aber sei am Ende, sie sterbe tatsächlich.

Am Beispiel von Peter Brückner (1922-1982) macht der Autor deutlich, daß heute eine praxislose Wissenschaft, ein interesseloses Wohlgefallen des Denkers am Denken nicht mehr toleriert werden dürfe. Und er zeigt in einer Nachbemerkung von 1998 sein eigenes Engagement in Sachen Brückner, als es darum ging, den Hochschullehrer vor Verfolgung und Suspendierung zu schützen. Am Dichter Elias Canetti fasziniert ihn dessen Ansicht, daß eine ungeheure Überzeugungskraft vor allem jenen Denkern eigen sei, die von der Schlechtigkeit des Menschen ausgingen: „Canetti geht vom Mißerfolg der Weltschöpfung aus ... Seitdem ist die dichterische Einbildungskraft Canettis mit Gegenentwürfen zur Welt beschäftigt.“

In einigen Beiträgen geht Mayer ein wenig tiefer auf das Schaffen des Künstlers ein; das betrifft die Dichter Paul Celan und Stephan Hermlin und den Dramatiker Heiner Müller. Hier wechselt der Zeitgenosse Mayer, der sich erinnert, zum Literaturwissenschaftler Mayer, der ausdeutet und erläutert. Auch der Artikel „Zu einem Brief Thomas Manns an Gerhart Hauptmann“, in dem es um die Beziehungen zwischen den beiden Schriftstellern geht, liegt in dieser Richtung.

Einer der mich am meisten überzeugenden Beiträge ist der zu Friedrich Dürrenmatt. Auf wenigen Seiten wird hier der Schriftsteller Dürrenmatt als Querdenker treffend charakterisiert: Er repräsentiere Weltliteratur im 20. Jahrhundert, verkörpere eine schöpferische Totalität. Dem Aufklärer und Moralisten Dürrenmatt gilt unverkennbar die ganze Sympathie des Autors.

Mayer fordert in seinen einzelnen Betrachtungen stets, ob sie nun knapp oder ausführlicher sind, ob sie Wertungen enthalten oder eine interessante Erinnerung mitteilen, daß man sich auf einen Künstler ganz einlassen müsse, wenn man ihn verstehen will. In den Erinnerungen und Deutungen zu Zeitgenossen, wie sie hier zusammengetragen worden sind, wird das aber nicht nur als Forderung erhoben; Hans Mayer öffnet damit auch einen Pfad zu dem jeweiligen Künstler. Man muß ihn nur konsequent gehen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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