Eine Annotation von Gisela Reller


Sadur, Nina/Sadur, Jekaterina: Die Wunde Ungeliebt

Zwei Erzählungen. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit.

Wostok Verlag, Berlin 1998, 186 S.

 

Ich hatte gedacht, die erste Erzählung würde von der Mutter, die zweite von der Tochter stammen. Als ich meinen Irrtum bemerkte, hatte ich das Buch fast ausgelesen. Nicht Meisterin und Elevin also, sondern zwei reife Autorinnen, einander ebenbürtig - in ihrer Darstellung dann allerdings doch unverwechselbar. Die Reihenfolge im Buch hatte sich wohl daraus ergeben: Tochter Jekaterina beschreibt ihre von niemandem geliebten, lieblosen jugendlichen Heldinnen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Bei Mutter Nina begegnen solche Heldinnen dem Leser als lebenswunde Frauen wieder, die, da hoffnungsloser, noch einsamer und verzweifelter sind in ihrer Suche nach Glück.

Jekaterina Sadurs Soja in „Das Fest der alten Frauen am Meer“ ist abgebrüht vom Ungeliebtsein und versucht, die eigenen Wunden zu heilen, indem sie anderen Wunden zufügt. So beginnt sie ein Verhältnis mit Jegor, dem halbwüchsigen Enkel ihrer Vermieterin. In Nina Sadurs „Süden“ verführt Olja den kindlichen Kostja - bei beiden Heldinnen (und Autorinnen?) wird deutlich, daß sie eigene Blessuren an noch Schwächeren abzureagieren versuchen. Es scheint, daß die Tochter aufarbeitet, was die Mutter hartnäckig ausspart. Wie Ninas Helden keine Kinder haben, so haben Jekaterinas Kinder keine Mütter - und Väter schon gar nicht.

Mutter und Tochter Sadur zählen zu den eigenwilligsten Autorinnen der russischen Gegenwartsliteratur. Nina Sadur, geboren 1950 im sibirischen Nowosibirsk, lebt seit 1977 als freie Autorin in Moskau. Ihre Theaterstücke, Erzählungen, Novellen und Romane wurden in renommierten Literaturzeitschriften veröffentlicht. Jekaterina Sadur wurde 1973 ebenfalls in Nowosibirsk geboren, hat das Gorki-Literaturinstitut absolviert und lebt heute ebenfalls als freie Autorin in Rußlands Metropole. 1994 erhielt sie den begehrten Preis der Literaturzeitschrift „Znamja“ für das beste Debüt des Jahres, 1997 wurde sie als jüngste Kandidatin für den Booker-Preis nominiert.

Brüder schreiben manchmal gemeinsam, Väter und Söhne selten, Mütter und Töchter - so gut wie nie! Ich jedenfalls kenne kein weiteres Beispiel dafür, daß Mutter und Tochter gleichermaßen begabte wie originelle Schriftstellerinnen sind.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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