Eine Annotation von Bertram G. Bock


Ibargüengoitia, Jorge: Abendstunden in der Provinz

Roman. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 147 S.

 

Wenn etwas an diesem Roman - zumindest mich - schier begeistert, ist es das folgende, im Roman ausgebreitete biographische Detail einer der Hauptpersonen. „Gloria wurde mit einem Arterienfehler geboren, so daß sich das Herz beim Schlagen über Gebühr anstrengen mußte. Da es ein Muskel ist wie jeder andre, wuchs es bei all dieser Gymnastik immer weiter, und mittlerweile ist es so groß, daß es in ihrem Brustkorb kaum noch Platz hat. Ein großes, aber krankes Herz, das jederzeit bersten kann ... Alle (Ärzte) sind sich einig: Gloria kann nicht geholfen werden. An dem Tag, an dem sie zum erstenmal mit einem Mann schläft und ihren ersten Orgasmus hat, wird ihr Herz platzen.“ Man kann sagen, was man will, aber selten ist Lust so eng mit Tod gekoppelt, selten ist das Begehren von Liebenden so mit Mitleid und eigenem Verzicht gepaart worden, denn: Welcher Liebhaber wünscht sich schon den Tod seiner Geliebten? Selbstverständlich sind so gut wie alle männlichen Mitspieler in dem Roman in Gloria verliebt - oder begehren sie zumindest -, denn sie ist nicht nur hübsch, sondern auch klug und aus „gutem Hause“, kurz das, was man früher wohl eine „gute Partie“ nannte.

Aber das ist letztendlich nur eine von vielen kleinen Geschichten, die in der (kleinen) Universitätsstadt Plan de Abajo passieren. Der alleinstehende Literaturprofessor Aldebarán, der in ebendieser seiner Heimatstadt eine Professur angenommen hat, ist der Ich-Erzähler und Chronist all der Ereignisse. Schnell hat er sich nach Jahren der Abwesenheit wieder in das heimatliche Gesellschaftsleben eingefügt, schnell ist er mit den Internas der wichtigen oder wichtig tuenden Leute vertraut, schnell hat er einen Überblick über die Dinge, die für das Gesamtgeschehen wichtig sind, und ebensoschnell ist - natürlich - auch er in Gloria verliebt. Doch er kann bzw. muß sich beherrschen, auch wenn sein Blick immer wieder zu ihr schweift, die nicht nur in seiner Nähe wohnt, so daß er sie aus seinem Fenster beobachten kann, sondern zudem noch eine seiner Studentinnen ist. „Der Montag ist für mich immer der mühsamste Tag. Da habe ich drei Stunden Vorlesung hintereinander und unterrichte drei Gruppen, die mich nicht interessieren, in drei Fächern, die ich nicht mag. In keiner der drei Gruppen sitzt Gloria.“ Damit ist seine Befindlichkeit schon (fast) ausreichend beschrieben. Aber Aldebarán ist nicht unbedingt ein Mann von Traurigkeit und tröstet sich daher vergnügt und ausführlich, fast ausschweifend mit der Frau eines ehrenwerten Philosophieprofessors.

Man könnte jetzt eine der kleinen Geschichten nach der anderen kurz zusammenfassen, auf ihre Brisanz, auf ihren Witz hinweisen, man könnte auch einzelne Bezüge zwischen den Geschichten aufzeigen, die Ironie und Satire, die sich da breitmacht. Aber das alles wäre nur Stückwerk, denn wenn dieser Roman lebt, dann eben nur als Gesamtwerk, als die berühmte Summe der vielen, vielen Einzelheiten (und Eigenheiten). Das Wesen dieser mexikanischen Schildbürger, die zwischen liebenswert und nervend fast alle Eigenschaften besitzen - insbesondere ein hohes Maß an eingebildeter Selbstsicherheit -, ist nahezu einmalig, und Jorge Ibargüengoitia (1928-1983) zeichnet sie selbst in ihrer Einfältigkeit reich. Das Personal des Romans „wuselt“ sozusagen höchst lebendig zwischen den Seiten hin und her, was dem Leser schon etwas Konzentration abfordert. So ganz einfach hat der Autor es dem Leser eben doch nicht gemacht - auch der Witz, die Ironie wollen entdeckt werden. Meint man, mit einer ganz realen, alltäglichen Szene konfrontiert zu werden, wie man sie selbst schon oft genug erlebt hat, findet man sich kurz darauf in einer realitätsfernen, absurden bzw. skurrilen Welt wieder. Glaubt man hingegen, es handle sich um eine Groteske, wird man schnell davon überzeugt, daß der „Wahnsinn“ doch alltäglicher ist, als man es sich vorgestellt hat. Ein Spiel also auch mit der Leserschaft, welches durchaus beflügeln kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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