Eine Annotation von Horst Wagner


Brasch, Thomas: Mädchenmörder Brunke

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 97 S.

 

Thomas Brasch, in England geborener Sohn eines hohen SED-Funktionärs, wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR“ gemaßregelt und wegen seiner Proteste gegen den Einmarsch Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR zu 27 Monaten Haft verurteilt, später in den Westen abgeschoben, ist bisher vor allem als Lyriker, Stückeschreiber und Filmautor bekannt geworden. Jetzt hat er uns mit seinem Mädchenmörder Brunke ein Buch vorgelegt, das wohl nicht, wie der Titel vermuten ließe, als Krimi gedacht ist. Am ehesten könnte man es als surrealistische Erzählung bezeichnen. Es ist nicht leicht, sich durch die etwas abstruse Fabel mit ihren plötzlichen Zeitverschiebungen und Personenumwandlungen hindurchzufinden. Aber man hat doch sein Vergnügen an Braschs hintergründigen Gedankengängen und pointierten Formulierungen. Die Geschichte beginnt mit dem Tod des Ich-Erzählers, der sich sogleich als Geist in einem Berliner Theater wiederfindet, wo eines seiner Stücke aufgeführt wird. Auf den nächsten Seiten verwandelt er sich in den Architekten D. H. aus dem Westteil Berlins, der nach der Wiedervereinigung Anspruch auf das Laubengrundstück seiner verstorbenen Großmutter angemeldet und dort mit dem Bau eines Hauses für sich und seine Verlobte begonnen hat. Dieser D. H. hat ein Manuskript hinterlassen, dessen Umfang einmal mit hundert, ein andermal mit zweitausend Seiten angegeben wird und das vom titelgebenden, Anfang des Jahrhunderts lebenden Mädchenmörder Brunke handelt. D. H. versucht nachzuweisen, daß Brunke eigentlich kein Mörder war, sondern die beiden Schwestern auf deren eigenen Wunsch umgebracht habe. Dieser Karl Brunke, wegen eines Verhältnisses mit seiner Lehrerin von der Schule verwiesen, verhinderter Marineoffizier und Theaterschriftsteller, ist ein knappes Jahrhundert nach seinem Selbstmord in der Gefängniszelle als „blankes Wesen“ in den Schädel des Architekten D.H. eingedrungen, geistert dort von Gehirnkammer zu Gehirnkammer und entledigt sich dabei seines Hautkleides. Durch diese Selbstenthüllung wird klar, daß Brunkes eigentliches Vergehen die Erfindung einer Liebesmaschine ist, „die den Menschen das Vorhandensein eines anderen Menschen und alle damit verbundenen Tode überflüssig macht, die sprechen und singen und umarmen und streicheln und verzeihen und küssen kann ...“ Wobei Brunke schließlich, nun ganz in den Kopf des Architekten D. H. eingedrungen, erkennen muß: „Es gibt keine Liebesmaschine, außer man selbst ist eine und sucht sich eine andere, eine aus Fleisch, Lust und Hoffnung, wie man selbst eine ist.“ Am Ende, im gestrichenen Teil des von D. H. hinterlassenen Manuskriptes, äußert dieser den Wunsch, daß seine Aufzeichnungen „von einem Schriftsteller restauriert werden“, der sie „unter seinem Namen der erbarmungslosen Kritik der Leser aussetzen“ soll. Nun: Nicht allen wird dieses Büchlein gefallen, aber ein interessantes ist es allemal.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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