Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


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Kaleidoskop von Themen und Ansichten

 

Visionen 2000
Einhundert persönliche Zukunftsentwürfe.

F. A. Brockhaus, Leipzig/Mannheim 1999, 415 S.

 

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Meilensteine der Menschheit
Einhundert Entdeckungen, Erfindungen und Wendepunkte der Geschichte.

F. A. Brockhaus, Leipzig/Mannheim 1999, 415 S.

 

Die Brockhaus-Redaktion hat mit Visionen 2000 einen in jeder Hinsicht sehr sorgfältig hergestellten Sammelband herausgegeben. Das schwere holzfreie und mattgestrichene Spitzenprodukt einer Schweizer Papierfabrik ermöglicht eine exzellente Wiedergabe auch kleinster Illustrationen ebenso wie überdurchschnittliche Druckqualität insgesamt, macht das Buch allerdings über Durchschnitt schwer. Gewichtig sind auch die Autoren, Essential eines reizvollen Versuchs, aus individuellem Blickwinkel die Zukunft auf einem bestimmten Gebiet zu erkunden, Wahrscheinlichkeiten zu begründen, Notwendigkeiten zu benennen.

Zustande gekommen ist in neuer, gewöhnungsbedürftiger und bekanntlich mit deutlichen Schwächen behafteter Rechtschreibung ein Kaleidoskop von Themen und Ansichten, die facettenreiche Sicht auf jeweils einen Problembereich, der offenbar recht großzügig vorgegeben und eingegrenzt wurde. Der auf diese Weise geschaffene Spielraum der Autoren trägt zum unkonventionellen Gesamteindruck des Buches bei. Es gibt sowohl exakte Fragen, etwa an den Geowissenschaftler nach der quantitativen und zeitlichen Verfügbarkeit von Rohstoffressourcen, als auch Versuche, allgemeine Auskünfte mit Blick auf die Zukunft zu erlangen, beispielsweise von einem Religionswissenschaftler über die Aussichten der menschlichen Verantwortung. Das ist dezent formuliert - man hätte ja auch nach den Grenzen der menschlichen Verantwortungslosigkeit fragen können. Pessimismus allerdings will der Band nicht verbreiten, es überwiegt die Zuversicht. Zum Vorteil der Publikation sind solche etwas diffusen Themen in der Minderzahl.

Die angebotenen Visionen sind breit gefächert. Vielfalt innerhalb der Hunderter-Begrenzung ist einer der wichtigsten Vorzüge des Buches. Eines von zahlreichen Beispielen für diese anregende Breite, das Abgehen von ständig strapazierten Themen, bietet Ernst Beyeler, Schweizer Sammler und Galerist (Fondation Beyeler in Riehen bei Basel in dem von Renzo Piano geschaffenen Museumsbau) mit seiner Frage: Werden wir die Begegnung mit der originalen Kunst noch brauchen? In seinen Antworten weist er darauf hin, vor dem Bildschirm könne nie „eine der schönsten Eigenschaften des Menschen geweckt werden: das Staunen“. Jedenfalls ist dies Beyelers Ansicht.

Er gehört auch zu den Autoren, die sich einer bildhaften, besonders gepflegten Sprache bedienen. Es sei Aufgabe der Kunstvermittler, schreibt er, auf die Wirklichkeit zu reagieren, die weiterhin Überraschungen bereithalten wird, „und dabei die Füße am erdigen Boden und den Kopf im reinen Licht des Visionären zu halten. Dann kann ein lebendiges Museum ein wunderbares Instrument sein, auch im dritten Jahrtausend schöpferische Kräfte anzuregen und die Menschen durch ausgesuchte Bildbotschaften auf eine andere Ebene zu versetzen.“

Herausragend auch der Beitrag von Herbert Heckmann, langjähriger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er gehört zu denen, die Wissen verständlich vermitteln, Probleme deutlich machen, zum Nachdenken über eine aktuelle Zukunftsfrage anregen, Widerspruch oder Zustimmung herausfordern, also nicht nur eine Vision verkünden. Das geschieht übrigens bei jedem der hundert Autoren auf gleichem Raum, stets vier Druckseiten mit variierenden Anteilen von Text und Illustrationen. Es dürfte nicht immer leicht gewesen sein, diese Kürze durchzusetzen.

„Sprechen wir in der Zukunft von Deutsch?“ lautet Heckmanns provozierende Frage. Wenn auch die Polemik gegen die ungebremste, oft widerliche Invasion des Angloamerikanischen recht zart ausfällt, wird doch der ablehnende Standpunkt deutlich: „Die Deutschen freilich übertreiben die Einbürgerung englischer Wörter in ihre Sprache, vor allem dann, wenn ein deutsches Wort viel triftiger als das englische ist.“ Wohl wahr. Zu einer Horrorvision der Überfremdung und fortschreitenden Zerstörung des Deutschen durch amerikanische Primitivismen konnte der Autor sich offenbar nicht entschließen. Eine ins nächste Jahrhundert projizierte Analyse des verheerenden (und verdummenden) Einflusses der Bildschirmwerbung steht noch aus.

Neben der Repräsentanz von Marktwirtschaft pur in Gestalt der Geschäftsführerin von Weltausstellung EXPO 2000, Birgit Breuel, findet man nur wenige weitere Persönlichkeiten, deren Ansichten hinreichend bekannt sind und einen bleibenden Eindruck kaum erwarten lassen. Zu ihnen zählt sicherlich der Präsident des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs (ADAC), Otto Flimm. Wenn er sich zu „Mobilität auf vier Rädern - Wie sieht es auf den Straßen der Zukunft aus?“ äußert, so kann man sicher sein, statt einer kritischen Sicht auf den Moloch Straßenverkehr das Credo eines Lobbyisten zu finden: „Mobilität bedarfsgerecht sicherzustellen für jedermann, halte ich ... für eine unabdingbare Grundlage in einer sich verändernden Gesellschaft.“

Solche Interessenvertreter mit der Sprache von Apparatschiks bleiben im Verhältnis zur Gesamtzahl der Autoren ebenso in der Minderheit wie die immerhin doch zehn Prozent Journalisten. Unter ihnen ist eine Autorin besonders bemerkenswert, weil durch sie die politische Satire in dem Buch einen einsamen Platz gefunden hat: Gabriele Krone-Schmalz, Fernsehjournalistin, gibt einen Ausblick auf wesentliche Aspekte des Lebens im Jahr 2050. Zum Beispiel: „Durch eine Verdreifachung der Diäten ist es endlich gelungen, über den öffentlichen Dialog hinaus Menschen zum politischen Engagement zu bewegen.“ Ein wohltuender Beitrag.

Das gilt ebenso für die ganz anders thematisierte und ausgeführte Ansicht von Ursula Engelen-Kefer, Vize-Vorsitzende des DGB. Sie vertritt mit bemerkenswerter Konsequenz das Recht auf Arbeit, ein „Menschenrecht“, das „wieder auf die Tagesordnung gehört“. Vergleichbare Konkretheit und Konsequenz vermißt man im Vorwort des Altbundespräsidenten Roman Herzog, Teil einer Rede von April 1997. Leseprobe: „Wenn alle die vor uns liegenden Aufgaben als große, gemeinschaftliche Herausforderung begreifen, werden wir es schaffen.“ Man erinnert sich einer ESSO-Werbung: Es ist viel zu tun. Packen wir es an.

Vertreter der ostdeutschen Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland sind auch in diesem Sammelband unterrepräsentiert. Man ortet Regine Hildebrandt, streitbar für soziale Gerechtigkeit, Friedrich Schorlemmer - „Die letztlich unerwartet gekommene Einheit Deutschlands wurde zu wenig als Chance zur Reform des nun vereinten Deutschland genutzt“ - und Gregor Gysi: „Seine Gegner jubilieren, ... Marx ein für allemal tot. Welch dümmliche Naivität. Welch geistiger Tiefgang.“ Mehr als diese drei Ostprozente sind nicht zu entdecken. Ein Symptom? Eine Vision 2000?

Der Reinerlös aus dem Verkauf des Werkes wird vom Verlag F. A. Brockhaus der Living Planet Campaign des World Wide Fund For Nature gestiftet, einer internationalen Kampagne zum Schutz von Lebensräumen, zur Rettung bedrohter Arten und zur Änderung menschlicher Verhaltensweisen. WWF ist die weltweit größte private Umweltschutzorganisation. So kann auch der Käufer des Buches zu einem kleinen Mäzen in diesem Bereich werden.

Zeitgleich mit Visionen 2000 hat die Brockhaus-Redaktion mit Meilensteine der Menschheit einen ebenso hervorragend ausgestatteten, nur farblich variierten Band herausgebracht. Er steht in der guten Tradition des Verlages, verläßliche Auskunft zu geben, und läßt das gelungene Bemühen erkennen, einem anspruchsvollen Publikum über lexikalisches Wissen hinaus Zusammenhänge lesbar, ja unterhaltsam zu vermitteln.

Von der Redaktion ausgewählt wurden hundert Themen aus Geschichte, Kunst, Religion und Philosophie, Naturwissenschaft und Technik. Dargestellt sind sie von 75 Autoren. Über sie ist allerdings außer Namen, akademischen Titeln und Orten (Wohnort? Arbeitsort?) nichts zu erfahren. Hier hätten sich kurze informative Hinweise, wie sie in Visionen 2000 zu finden sind, durchaus angeboten, die Bildquellen sind ja akribisch angegeben. Der Laie wird den Herausgebern sicherlich vertrauen, möchte aber vielleicht doch wissen, wer ihn da auf gepflegte und sachkundige Weise unterrichtet.

Eine Einschränkung zumindest ist notwendig, was die Sachkunde betrifft. Im vorletzten Beitrag des Buches - vor „Die vernetzte Welt - World Wide Web im Internet“ - wird der Fall der Berliner Mauer mit seinem politischen Umfeld behandelt, und diese Darstellung kann inhaltlich nicht befriedigen. Sicherlich ist es schwierig, auf zwei illustrierten Doppelseiten ein komplexes Thema abzuhandeln, aber dies gilt auch für die anderen 99 Beiträge, in denen vergleichbare Schwächen nicht zu finden sind. Fehler fallen schon auf den ersten Blick auf. So übernahm Hans Modrow 1989 keineswegs „auch die Führung der SED“, wie Autor Martin Vogt aus Darmstadt entgegen den Tatsachen behauptet, die man in allen seriösen deutschen Tageszeitungen und Archiven nachprüfen kann. Falsch und in der Verkürzung dilettantisch wirkend ist ebenso die Darstellung, der neue Ministerpräsident der DDR habe „zuerst durch Ausschluß allzu belasteter Parteigrößen“, dann „durch Umbenennung der SED in PDS“ versucht, „Reformbereitschaft zu signalisieren“. Die Parteiausschlüsse und die zwei Umbenennungen waren kollektive Entscheidungen zuständiger Parteigremien, können also keineswegs Modrow zugeschrieben werden, der sich als Ministerpräsident ausdrücklich nicht in Parteiangelegenheiten engagiert hat.

Entgegen den historischen Tatsachen meint der Autor, um eine weitere Fehlleistung zu nennen, daß nach der friedlichen Revolution die Vorbereitungen zur Wiederherstellung staatlicher Einheit „langsam begannen“. Sicherlich sind „langsam“ und „schnell“ dehnbare Begriffe, aber ein Wort zum Tempo der Vereinigung sollte doch der Wahrheit möglichst nahekommen, wenn schon dieser Prozeß so lapidar abgehandelt wird. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, der Beitrag Nr. 99 sei in aller Eile noch in den Band aufgenommen worden.

Wenig ins Gewicht fallen da kleine Ungenauigkeiten an anderer Stelle, etwa in „Habeas Corpus - Ein Schritt zum Rechtsstaat“. Hier heißt es, heutzutage müsse ein Verhafteter (exakt wäre: oder ein vorläufig Festgenommener) binnen zwei Tagen freigelassen werden, „es sei denn, ein Richter entscheidet, daß Anklage wegen einer Straftat erhoben wird“. Das ist nicht exakt. Der Richter entscheidet zunächst nur über eine weitere Inhaftierung, indem er Haftbefehl erläßt oder bei dessen Vorliegen die Fortdauer der Untersuchungshaft entscheidet - eine Teilung der Kompetenzen im Sinne der Rechtstaatlichkeit.

In dem Band überwiegt die Würdigung wissenschaftlicher und kultureller Leistungen, die sowohl inhaltlich als auch in ihrer historischen Wirkung dargestellt werden. Man mag unterschiedliche Ansichten zur Berechtigung einzelner Beiträge in dieser Auswahl haben, etwa über die um 1425 „erfundene“ Zentralperspektive in der Malerei und Architektur. Sie könnte für die Menschheit - bei allem Respekt vor den darstellenden Künstlern - vielleicht unter den tausend besonderen Errungenschaften rangieren. Dennoch haben auch solche relativen Randthemen durch ihre interessante Darstellung und den vermittelten Bildungswert ihren Platz in dieser Zusammenstellung, deren Reiz in der Mannigfaltigkeit liegt.

Als „Außenseiter“ sind weiter zu nennen „Das Portrait“ als eine in der Renaissance zur Blüte gekommene Darstellungsform des Individuums und „Louis Armstrong in New York - Der Jazz“. Auch wenn manche Themen nicht von Meilensteinen der Menschheit handeln oder besonders liebenswerte Meilensteinchen beschreiben, darf man der Redaktion zur gelungenen Auswahl gratulieren.

Der Band bietet sowohl einer - hoffentlich - wißbegierigen oder immerhin neugierigen Jugend als auch den bildungsbewußten Erwachsenen aller Couleur vielfältige Gelegenheit, Wissen zu erwerben, zu erweitern, zu überprüfen, zu festigen. Die Kapitel, wie bei Visionen 2000 auf je vier Druckseiten begrenzt und reich illustriert, sind durchweg sehr lesbar. Sie wenden sich nicht an speziell Vorgebildete oder gar an die Fachwelt, etwa an Historiker, Naturwissenschaftler, Philosophen, sondern an den aufnahmebereiten Laien. Ihm werden sie sicherlich Belehrung im besten Sinne und das Vergnügen vermitteln, das sich beim Lesen gepflegter Texte einstellt, die einzige Ausnahme ist genannt worden. Auch in diesem Buch, wie bei seinem Pendant, sind die mit viel Bedacht ausgesuchten Illustrationen ein besonderer Gewinn. Das gilt für ihre inhaltliche Aussage und für die hervorragende Qualität der überwiegend farblichen Wiedergabe. Ein Buch zum Behalten und ein Buch zum Verschenken.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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