Eine Rezension von Sibille Tröml


Von Zukunftsfreud und Zukunftsleid - wilhelminische Blicke auf den Beginn des „American Century“ im europäischen Vergleich

Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne
Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich.

Akademie Verlag, Berlin 1997, 328 S.

 

Die Vereinigten Staaten, für die das Kurzwort „Amerika“ seit etwas mehr als zwei Jahrhunderten zum Synonym geworden ist, nehmen seit Entdeckung des Kontinents einen zentralen Platz im europäischen Denken und Wahrnehmen ein. Die Formenvielfalt des Aufgeschriebenen ist dabei ebenso breit gefächert wie das Spektrum der Amerika-Bilder, welches von rückhaltloser, euphorischer Bewunderung bis hin zu abgrundtiefer, blinder Verachtung reicht. Und doch ist jedes Amerika-Bild nicht einfach nur eine Widerspiegelung dessen, was gesehen, erlebt oder anderweitig zur Kenntnis genommen wurde. Wie jedes Bild vom anderen (Land), so gibt auch das Bild von Amerika Auskunft über das Bild vom eigenen (Land), verrät viel über die jeweilige Bewußtseinslage des jeweiligen Bilder-Produzenten.

Auch in Alexander Schmidts 1994 an der Freien Universität Berlin als Dissertation eingereichten und 1997 veröffentlichten umfangreichen Untersuchung zum „Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich“ bildet diese in der Länder-Bild-Forschung allgemein anerkannte These einen Ausgangspunkt. Ein weiterer ist die Frage, ob und wenn ja inwieweit es sich bei den vom „europäischen“ (das heißt deutschen, britischen, französischen und italienischen) Bürgertum gezeichneten Bildern lediglich um eine Anhäufung bereits vorhandener Klischees und Stereotype handelt. Dritter und keineswegs letzter, sondern die beiden erstgenannten umspannender Ausgangspunkt ist der, daß es sich bei der Auseinandersetzung mit Amerika (spätestens) seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr um jene rückwärtsgewandte Utopie handelt, die Wynfrid Kriegleder 1999 auf die griffige und scheinbar widersprüchliche Formel „Vorwärts in die Vergangenheit“ brachte. Wie bereits im Titel von Schmidts Buch benannt, dominiert statt dessen die Debatte um das bzw. um die Moderne in den USA, die sich wiederum im (nicht nur damals) „zeitgenössische(n) Diskurs über gesellschaftliche Modernisierung“ bewegte.

Doch Schmidt geht es in seiner sich vornehmlich als sozial- und mentalitätsgeschichtlich verstehenden Studie weniger um allgemeine und damit um amerikaübergreifende Diskussionen zur Modernität. Ihn interessiert vielmehr, wie das deutsche Bürgertum zwischen 1890 und 1914 „Moderne“ bzw. „Modernisierung“ am Beispiel der Vereinigten Staaten „sozusagen indirekt erfahren und verarbeitet“ hat, ob und wenn ja inwieweit hierbei Wandlungen sichtbar wurden und ob bzw. wie sich die Amerika-Ansichten der „Wilhelminer“ von denen einzelner europäischer Nachbarn unterschieden. Textgrundlage bilden ca. 100 Reiseberichte, bei denen es sich vornehmlich um (beruflich-)touristische und nicht um literarische (fiktionalisierte) Reiseschilderungen handelt. Betrachtet unter den Aspekten soziale (Un-)Gleichheit, Mobilität, Wirtschaft, Arbeit und Beruf, Mentalität, Familie und Geschlechterrolle, Bildung sowie Großstadt, zeigt sich hierbei zwar eine mehrfach betonte „eindeutige Dominanz der Gemeinsamkeiten“, doch lassen sich auch Unterschiede spezifisch nationaler Prägung in den Wertungen und Urteilsmustern der bürgerlichen Gruppen erkennen. So weist das deutsche Bürgertum nicht nur eine besondere Sensibilität gegenüber den Verwüstungen der Natur und den Problemen des Städtebaus in den USA auf, es läßt sich auch - wie Schmidt schreibt - eine „tendentielle Ablehnung der Demokratie als Staatsform“ von deutscher Seite ausmachen. Im Unterschied dazu dominierte bei französischen Reisenden im untersuchten Zeitraum der Gedanke eines in nahezu allen Bereichen des amerikanischen Lebens präsenten „Mangels an Kultur“, ein Argument, das sich freilich auch in deutschen Reiseberichten immer wieder findet. Und was die britischen Beobachter betrifft, so konstatiert Schmidt ein im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich „deutlich weniger entwickeltes explizites Europabewußtsein“, das heißt, die ehemalige Kolonie wurde zwar hier und da mit Europa verglichen, es überwog jedoch „das“ insulare Sonderbewußtsein, das keinerlei europäische Einigung nach amerikanischem Vorbild erstrebte.

Das alles klingt - derart reduziert - für den interessierten Laien wie für den Amerika-Bild-Fachmann wenig neu, mag allenfalls die Vertreter der Sonderwegsthese überraschen. Doch liegt das Bestechende der vorliegenden Arbeit, die etwas zu großzügig bzw. zu einengend mit dem Begriff „europäisch“ arbeitet, auch nicht in jenen großen Ergebnissen, sondern in der Vielzahl der kleinen. Hier nämlich zeigen sich interessante Kontinuitäten bzw. Veränderungen oder Polarisierungen zu althergebrachten (bzw. späteren) Positionen, zeigen sich Verdrängungen oder Fokussierungen bei der Wahrnehmung. Es ist die erstaunliche Vielzahl an Einzelergebnissen, die das Bereichernde dieser Studie ausmacht, wenngleich gerade sie auf so manchen als schwer überschaubare und die eigene Gedächtnisleistung stark fordernde „Masse“ von Details wirken mag. Schmidt scheint sich dieses Problems durchaus bewußt gewesen zu sein. Indem er jedoch innerhalb der einzelnen Kapitel bisher Gesagtes zu ordnen und zu bündeln versucht, steuert er unvermeidbar der Gefahr von Redundanzen entgegen.

Doch der Leser wird ihm aus den bereits genannten Gründen sogar dankbar dafür sein. Ebenso dankbar wird er für die begrüßenswerte Verständlichkeit und Lesbarkeit dieser Arbeit sein. Hier nämlich verschanzt sich Bildung und Sprachgewandtheit nicht hinter billigem Fremdwortgeklingel und wildem Jonglieren mit kultur- und literaturtheoretischem (Neu-)Vokabular, das nicht nur für Laien oftmals unverständlich ist. Bedauerlich, wenn auch verständlich, ist eigentlich nur eines an diesem Buch: sein Preis. Er nämlich wird - leider, leider - eine größere Verbreitung der überaus lesenswerten Ergebnisse im Original verhindern und statt dessen dazu führen, daß diese Untersuchung über das Reisen in die „alte“ Moderne ein „Opfer“ der „neuen“ wird. „Reisen“ wird dabei vor allem eines, nämlich das Papier durch den Kopierer.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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