Eine Rezension von Walter Unze


Einsichten in die Lebenswelt der Familie Wagner

Renate Schostack: Hinter Wahnfrieds Mauern
Gertrud Wagner. Ein Leben.

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1998, 446 S.

 

Die Literatur zum Leben, Schaffen und zur Wirksamkeit Richard Wagners kennt kein Ende. Längst ist die ganze Familie in ihren verschiedenen Generationen erfaßt: von Richard und Cosima über Siegfried und Winifred bis zu Wieland und Gertrud. Wenn Renate Schostack in ihrem gründlichen Lebensbild von Gertrud Wagner so interessant zu erzählen weiß, wenn ihre Quellen derart reichhaltig sprudeln, dann verdankt sie das der vorbehaltlosen Öffnung des Privatarchivs der Gertrud Wagner. So haben wir hier den seltenen Glücksfall, daß nicht mühsame Recherchen und nur stückwerkhaftes Material die Grundlage einer Biographie bilden, sondern eine Fülle von Tage- und Notizbüchern, choreographische Aufzeichnungen, Briefe, Tonbänder und Fotografien. Hinzu kommen viele Gespräche, die die Autorin mit Gertrud Wagner geführt hat. Da die Leistungen Gertrud Wagners durch ihren Gatten Wieland intensiv genutzt, jedoch nie gewürdigt worden sind, versteht die Autorin das Buch auch als „Wiedergutmachung“, als einen „Akt der Gerechtigkeit“.

Die am 31. Dezember 1916 geborene Gertrud Reissinger wuchs in einem Elternhaus auf, in dem es zwischen dem Vater Adolf Reissinger, Lehrer und naturwissenschaftlicher Hobbyforscher, und der musisch interessierten Mutter Luise wenig Zuneigung und viel Spannungen gab. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Adolf Reissinger Schritt für Schritt zu einem beinahe fanatischen Anhänger des Nationalsozialismus - auch das ein ständiger Streitpunkt mit seiner Frau. 1925 kam die Familie aus Passau nach Bayreuth. Hier machte Gertrud am humanistischen Gymnasium die Bekanntschaft von Wieland Wagner (1917-1966), aber auch von dessen Schwester Friedelind, mit der sie bald eine enge Freundschaft verband. So lernte Gertrud das Haus „Wahnfried“ und dessen Bewohner kennen: die Großmutter Cosima (1837-1930), den Vater Siegfried (1869-1930), die Mutter Winifred (1897-1980) und die anderen Geschwister von Friedelind - Verena und Wolfgang. Bald gehörte sie zum engeren Zirkel der Familie Wagner.

1934 zog die Familie Reissinger nach München, wo Gertrud seit 1937 eine Ausbildung als Tänzerin absolvierte. Doch die Beziehung zu Wieland Wagner blieb bestehen, festigte sich und führte 1941 zur Heirat der beiden. Nun begann eine Zeit intensiver gemeinsamer Arbeit an den Opern Richard Wagners, nur unterbrochen durch die letzten Kriegsmonate und die ungewisse Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese kreative, allerdings auch widerspruchsvolle Lebensetappe reichte bis zum unerwarteten Tod von Wieland. Vor allem eine langjährige öffentliche Beziehung von Wieland mit der jungen Sängerin Anja Silja (geb. 1940) belastete das Verhältnis der beiden Eheleute. Nach 1966 stellte sich die Familie Wagner mit Wolfgang an der Spitze gegen Gertrud: „Sie hatte Witwe zu sein, sich zurückzuziehen - basta. Ihre Kaltstellung erfolgte in Etappen. Zuerst erhielt sie Redeverbot, dann Inszenierungsverbot, zuletzt Schreibverbot.“

Das Buch erlaubt gründliche Einsichten in die Lebenswelt der Familie Wagner seit den zwanziger Jahren. Wenn die Autorin allerdings eingangs die Ansicht vertritt, daß dieses Buch eine „zwar herausgehobene, aber doch auch typische deutsche Familiengeschichte“ vermittle, weil die Wagners das taten, „was die Deutschen in diesem Jahrhundert taten, nur ein bißchen mehr und in größerem Stil“, dann muß man nach der Lektüre doch Vorbehalte anmelden. Allein solche Bilder, die Winifred mit Adolf Hitler, Wieland im Mercedes, einem Geschenk Hitlers, und Adolf Hitler mit Wieland und Wolfgang Wagner am Arm zeigen, machen deutlich, daß die Familie Wagner im Dritten Reich nicht nur „ein bißchen mehr“ als andere deutsche Familien tat. Wenn das Buch tatsächlich ein „deutscher Familienroman“ geworden ist, dann aber doch einer, der eine Familie vorstellt, die direkt wie wenige mit der NS-Spitze verbunden war. Und da staunt der heutige Leser denn doch, wenn er erfährt, daß Winifred 1948 in einem Verfahren als „minderbelastet“ eingestuft wurde. Auch zu dieser Zeit war man bei Wagners noch der Meinung, der Hausfreund Hitler, dem man die Treue gehalten habe, hätte mit den NS-Verbrechen nichts zu tun. Ein offenes Wort zum Dritten Reich gibt es nicht seitens der Familie Wagner. Die Autorin muß denn auch feststellen - und gerät da wohl ein wenig in Widerspruch zu ihrer These von der typisch deutschen Familie: „Als Angehörige einer so herausgehobenen Familie, als Exponenten des deutschen Kulturlebens hätte man von ihnen ein Wort deutlicher Distanzierung von Hitler und den ideologischen Verwicklungen der Familie in die NS-Vergangenheit erwarten können. Das Bewußtsein, daß man sich nicht aus der Verantwortung für diese Geschichte stehlen kann, war in der Familie Wagner nicht vorhanden.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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