Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Gute und schlechte Nachrichten aus Jakutien

Gerd Ruge: Sibirisches Tagebuch

Berlin Verlag, Berlin 1998, 288 S.

 

Gerd Ruge war in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre der erste ständige Korrespondent der Bundesrepublik Deutschland in Moskau. Er kehrte bis auf den heutigen Tag immer wieder in das Land zurück, das sich damals Sowjetunion, heute Rußland nennt. Was man seinen Fernsehbeiträgen und seinen Filmen über Sibirien seit langem sofort anmerkt, hier berichtet nicht irgendein Korrespondent. Was dieser Mann mit der eher zurückgenommenen Stimme mitzuteilen hat, ist mehr als Erfahrung und Information. Gerd Ruge ist nicht einfach „unterwegs“, wenn er aus Rußland berichtet, er ist ein Reporter des Herzens, ihm merkt man an, daß er Land und Leute zwar kritisch beurteilt, zugleich aber auch, daß er Land und Leute liebt. Nicht pauschal, aber immer da, wo er pulsierende Lebenswelten entdeckt, die im Westen schon längst der Vergangenheit angehören. Er sucht geradezu mit Leidenschaft nach Menschen, in denen sich die wagehalsige, verrückte, entmutigende und dennoch voraneilende Geschichte dieses Jahrhunderts spiegelt. Parallel zum Fernsehfilm entstand dieses Sibirische Tagebuch. Im Vorwort meint Ruge, was aus Rußland werde, „geht uns direkt und fast existentiell an, denn es wird die Zukunft Europas und der Welt mitbestimmen“. Erschütterungen und Veränderungen dieses Kontinents, der von Europa bis Alaska reicht, wollte Gerd Ruge im Sommer 1997 im östlichen und fernen Sibirien erkunden. Denn ganz anders als in Moskau, das seine Verwestlichung schon deutlich zeigt, überwiegen in Jakutien „ungewisse Zukunftsaussichten“. Der ferne Osten Rußlands interessierte ihn, ein Gebiet, das er seit vierzig Jahren „mit Flugzeugen, Autobussen und im Kanu mehrere Male durchreist hatte, um bei einfachen Leuten zu erfahren, was dieses Land auch in seiner tiefen Krise zusammenhält“.

Das Land ist weit, und was man in Moskau über Sibirien hörte, muß nicht an jedem Ort zutreffen. Gestreikt wird sicher irgendwo, aber schon die ersten Gespräche Ruges zeigen neue Möglichkeiten und alte Widersprüche dicht beieinander. Die Enkelin einer Frau lernt jetzt schon Englisch in einer Privatschule, und sie sagt: „Mehr oder weniger wird langsam alles besser.“ Doch da mischt sich ein alter Mann ein, das sei doch alles nicht wahr, er habe sein Leben lang ehrlich gearbeitet und nun seit sechs Monaten keine Kopeke Rente bekommen. Gleich ändert auch die Großmutter ihre Meinung, oder sie ergänzt sie, schämt sich, daß Rußland „heute auf einem Bein“ hinke. So ist das in Rußland, so ist es auch in Sibirien. Doch die Jakuten haben ihr Selbstverständnis nicht verloren, im Gegenteil. Gerd Ruge erzählt anschaulich, wie sie mehr noch als früher ihre Kultur pflegen, zu alten Ritualen zurückgefunden haben. Manche aber wissen auch längst, daß es mit der Arbeit schwerer geworden ist. Wozu weiterhin in einem kalten, unwirtlichen Land leben, sagen die einst Zugewanderten, wenn die Löhne gesenkt oder monatelang nicht ausgezahlt werden.

Die Fahrt durch Sibirien ist wie eine Fahrt quer durch einen großen Erdteil. Und Gerd Ruge, der sofort mit den Leuten ins Gespräch kommt, man vertraut ihm, und er beherrscht die russische Sprache, macht Leute aller Art ausfindig. Auch mit einem Schamanen unterhält er sich, möchte gern, daß der Alte, der wie ein Indianerhäuptling aussieht, die Geister einmal herbeirufe. Immer wieder wechseln die Szenen, die Orte - die Landschaft ist und bleibt unendlich weit. Lobt ein Direktor die Arbeit in einer Grube, spricht sofort ein Nachbar ganz anders und kritischer über denselben Sachverhalt. Viele Meinungen, viele und sehr unterschiedliche Erfahrungen in einer Welt, die versucht, kapitalistische Methoden einzuführen. Doch das Geld fehlt überall. In einer Juwelierfabrik zahlt man für Strom und Heizung mit Ketten und Ohrringen. Aber dieses Tauschgeschäft funktioniert, wie Gerd Ruge vielerorts erfährt. Gerade mit dem erprobten System der Naturalwirtschaft, weder Kommunismus noch Kapitalismus, hat man überlebt, wird man überleben.

In Gesprächen mit Fischern, Jägern, Busfahrern, mit einem Steuermann oder mit alten Leuten entstehen Bilder von großer leuchtender Eindringlichkeit, vom ganz harten und kargen Leben, aber auch von der Liebe zur Landschaft, die sich auf allen Seiten des Buches nachhaltig auf den Reisenden, auf den Reporter Gerd Ruge überträgt. Dadurch wird sein Tagebuch nie langweilig, eher wächst die Spannung von Kapitel zu Kapitel. Er sieht den ersten Supermarkt in Sibirien, geleitet von einem Mann, der einmal Parteisekretär war, nun aber weiß, worauf es in der neuen Zeit anzukommen hat. Mode aus Paris, auch das gibt es längst in Jakutien, und es gibt dort nicht nur Schönheiten, sondern auch Frauen, die sich das leisten können.

„Kommen Sie doch mal wieder!“ ruft zum Abschied Frau Atschikassowa Gerd Ruge zu. Nachdem sie ihm zuvor erzählt hat, daß die Jungen aus dem Dorf weggezogen, die Alten gestorben und die übrigen umgesiedelt worden sind. Dorf, Schule, Geschäft, Friedhof - alles weg, wenn sie und ihr Mann nicht mehr leben, „wird hier keiner mehr wohnen“.

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten, vieles ist bedroht, aber es gibt auch Hoffnung, Hoffnung und süße Melancholie im fernen weiten Sibirien.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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