Eine Rezension von Henry Jonas


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Schauspieltheater im Überblick

 

Durch den Eisernen Vorhang Theater im geteilten Deutschland 1945-1990.
Herausgegeben von Henning Rischbieter in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste.

Propyläen Verlag, Berlin 1999, 288 S.

 

Vom 16. Mai bis 1. August zeigte die Akademie ihre Ausstellung „Durch den Eisernen Vorhang“, und zeitgleich legte der Propyläen Verlag den gleichnamigen repräsentativen Bildband vor. Da Konzeption und Redaktion in der gleichen Hand lagen - Theaterprofessor Henning Rischbieter, über viele Jahre Chefredakteur von „Theater heute“, Mitglied der Akademie -, ist es keine Überraschung, daß hier wie dort übereinstimmend versucht wird, Theatergeschichte mittels künstlerischer Biographien einiger ausgewählter, stilprägender und epochegestaltender Regisseure in West (Gründgens, Kortner, Zadek, Stein, Noelte, Peymann) und Ost (Brecht, W. Langhoff, Heinz, Dresen, Besson, Lang, Müller) im Überblick zu skizzieren und die Lücken durch summarische Übersichtsartikel abzudecken.

Über die getroffene Auswahl kann man sicher streiten. Der eine oder andere Verlust ist zweifellos zu beklagen (Barlog, Lietzau, Dorn und Flimm im Westen, Wisten, Vallentin, Meyer und Bennewitz im Osten zum Beispiel sind sicher zu kurz gekommen, und um eine ausführliche kritische Analyse der Arbeiten von Kayser und Perten wird man auf Dauer auch nicht herumkommen). Auch daß Dramatikentwicklung kaum eine Rolle spielt - nur das Dokumentartheater wird als Politikum behandelt -, ist bedauerlich (läßt sich doch daran gerade im Osten ablesen, wie „staatstragend“ oder „aufmüpfig“ das Theater eigentlich war). Und daß Theater nur als Schauspiel gesehen wird und nicht in der Einheit seiner Sparten, ist ebenfalls ein Manko (gerade im Osten wurde - einerseits durch Felsenstein, andererseits durch Brecht/Dessau/Berghaus bewirkt - Musiktheater weit mehr der darstellenden Kunst zugerechnet als dem Musikbereich). Aber mehr war in der zur Verfügung stehenden Zeit sicher nicht zu leisten, und allzu subjektives Verfahren oder gar Willkür wird man Rischbieter nicht vorwerfen können. Jede Auswahl schließt Entscheidungen ein, die seinigen jedenfalls haben Methode, und die erstmalige Verschränkung von Entwicklungen in Ost und West ist ohnehin eine Leistung, die Anerkennung verdient.

Entstanden sind eine Reihe hochinteressanter Porträts, die anerkennende Würdigung sensibel mit kritischer Eingrenzung verbinden und in bildhaften Beschreibungen vergangene Regie- und Darstellerleistungen wiederauferstehen lassen. Die Beiträge über W. Langhoff und Heinz sind ein bißchen summarisch geraten, die künstlerischen Methoden und Leistungen und was die beiden unterschied wird nicht gerade plastisch. Bei Heinz stimmen zwar nicht alle Details, aber der Autor ist den Hauptproblemen durchaus gerecht geworden, und man versteht, warum Heinz trotz aller Toleranz zuerst Besson und dann Dresen verlor und schließlich abtrat. (Besson, anschließend wunschgemäß Intendant der Volksbühne geworden, ging es nach einiger Zeit mit dem Regiegespann Karge/M. Langhoff selbst ganz ähnlich. Das und andere Gründe führten dann zu seinem Rücktritt; daß er „gekündigt“ worden sei, ist ebenso Legende wie die Anmerkung, Heinz habe die weitere Zusammenarbeit am DT „aus Eitelkeit und ideologischer Rechthaberei“ verweigert.) Der Beitrag über W. Langhoff aber ist in seiner Verknappung fast ungerecht. Ohne das Weigel-Zitat am Ende bliebe wohl vor allem das Bild eines politischen Opportunisten. Daß beide Darsteller, Heinz und Langhoff, als Anhänger des Stanislawski-Systems apostrophiert, am Ende ihres Lebens Hauptrollen am Berliner Ensemble übernahmen (und Heinz am Westberliner Schiller-Theater Regie führte), bleibt leider ungenannt, ist aber Zeugnis ihrer immerwährenden Neugier und Lernbereitschaft. Der Beitrag Dresens, eine wirkungssichere Selbstdarstellung, sticht heraus. Wiewohl glänzend formuliert, hätte er wohl Berechtigung nur als Ergänzung einer objektiven Beschreibung und kritischen Bewertung seiner Arbeit.

Im Ganzen hat man den Eindruck, daß der Herausgeber über ein kenntnisreiches, leistungsfähiges und methodisch in sich abgestimmtes Redaktionskollektiv verfügt, was das BRD-Theater angeht, daß er sich aber bezüglich des DDR-Theaters auf unsicherem Terrain bewegt und mit Gastkommentatoren behilft. Das betrifft auch die Überblicksdarstellungen. Die Entwicklungstendenzen in der BRD werden genau recherchiert, fast vollständig referiert, präzis interpretiert. Im DDR-Teil aber bleiben Lücken, einiges ist ungenau dargestellt, einiges wird sogar tendenziös entstellt. Drei Beispiele:

Es stimmt einfach nicht, daß in den ersten Nachkriegsjahren die Westdramatik im Osten kaum vertreten gewesen wäre. Ich habe damals in Dresden und Ostberlin mehr als zwanzig Stücke aus den USA, aus England und Frankreich kennengelernt, mit Albert Maltz und Howard Fast vielleicht andere Autoren, als im Westen gängig, aber doch auch Stücke von Clifford Odets und Osborn, von Sartre und Salacrou, von Ewan McColl und Roger Vailland, und das Große Haus in Dresden wurde nach dem Wiederaufbau 1949 durchaus nicht nur als Oper eröffnet, sondern mit Bruckners „Simon Bolivar“ und mit „Der 49. Staat“ von James Aldridge. Ich glaube nicht, daß in den westlichen Zonen damals ein ähnlicher Zugang zu russischer Dramatik eröffnet wurde - suchte doch jede Besatzungsmacht soviel an eigener Dramatik wie möglich in ihrer Zone zu plazieren.

Es ist auch unerklärlich zu behaupten, die ersten Theaterneubauten der DDR - Weimar, Dresden, Chemnitz, Halle werden genannt, Magdeburg und Dessau werden vergessen - hätten im Zuschauerraum und in den Foyers den prunkvollen stalinistischen Ausstattungsstil gezeigt. Sie alle waren modern, sachlich, nüchtern, fast schmucklos gehalten, in Dresden gab es sogar Enttäuschung, weil der Kronleuchter fehlte und dafür Neonröhren die Decke erhellten. Reichere Mittel wurden erst später eingesetzt, bei der Volksbühne und der Lindenoper, beim Berliner Konzerthaus und der Semperoper; aber auch die waren nicht stalinistisch, sondern dienten der historischen Rekonstruktion.

Veränderungen der Theaterstruktur werden zwar genannt, aber als Schrumpfungsprozeß fehlinterpretiert und mit dem Rückgang der Besucherzahlen falsch in Verbindung gebracht. Es ging damals um eine begrenzte Umgruppierung der Kräfte mit dem Ziel, das Kunstniveau zu heben - weder die Zahl der Theaterschaffenden (17 000) noch das Spielplanangebot wurden reduziert. 1958 hatte die DDR bei 17 Millionen Einwohnern 17 Millionen Zuschauer (BRD: 60 Millionen Einwohner, 20 Millionen Zuschauer). Der Rückgang begann Anfang der sechziger Jahre mit der massenhaften Verbreitung des Fernsehens, zumal Adlershof anfangs einen Schwerpunkt auf die Inszenierung von Theaterstücken setzte. Die Zuschauerzahl sank bis 1966 auf 12 Millionen. Als sie sich zwanzig Jahre später endgültig bei reichlich 10 Millionen einpendelte (BRD: 22 Millionen), ermittelten soziologische Untersuchungen als Ursache vielfältige andere Mittel und Formen der Freizeitgestaltung. (Die Auflösung der Volksbühnenorganisation war längst verkraftet, und eine stärkere Politisierung der Spielpläne hätte nur anziehend gewirkt, da ja plumpe Agitations- und Propagandastücke nicht mehr zu Debatte standen.)

Nein, an „Liebe“ und materieller Unterstützung hat es die DDR niemals fehlen lassen, aber ihre Zuwendung war mitunter erdrückend. Insofern ist es durchaus richtig, die Geschichte des DDR-Theaters als Geschichte von Pressionen, Auflagen und Verdikten zu schreiben. Der BRD-Staat hat sich nur sehr selten direkt eingemischt, in der DDR aber konnte jedes Mißbehagen, das eine neue Richtung, eine ungewohnte Erscheinung, eine verblüffende Sicht, ein Experiment oder eine Entdeckung naturgemäß hervorruft, sofort zu einem administrativen Akt führen.

Konnte, mußte aber nicht. Das Berliner Ensemble war anfangs durchaus ungeliebt, aber es war ein Kind der DDR. Der Staat gab Brecht den Haushalt für ein Ensemble, Gastrecht im DT, und nach Wiedereröffnung der Volksbühne wie verabredet das Theater am Schiffbauerdamm, und Brecht erlitt, genau wie Felsenstein, niemals Pressionen oder Auflagen. Dabei war das so selbstverständlich selbst für Fachleute nicht. Martin Hellberg zum Beispiel war außer sich, als er das „Kleine Organon“ nach der Erstveröffentlichung in die Hände bekam, und rückte in Dresden sofort ein Pamphlet mit dem Titel „Armer Kean!“ ins nächste Programmheft ein. (Die BRD hat dem legendären Piscator nach seiner Rückkehr ein Theater nicht anvertraut.)

Die Pressionen hatten wenig Methode, waren kaum berechenbar, betrafen Klassik wie Gegenwartsdramatik. Einige waren nur lokaler Natur (Sindermann, der das Hallenser Theater sonst weitgehend ermutigte, ihm den Rücken stärkte, ließ Martin Sperrs „Landshuter Erzählungen“ dort absetzen, während sich das Stück zur gleichen Zeit im Spielplan des Deutschen Theaters in Berlin ungestört behauptete), andere überlebten sich mit der Zeit. „Moritz Tassow“ von Hacks mußte vom Spielplan der Berliner Volksbühne weichen, konnte aber zehn Jahre später in Schwerin ungehindert wiederauferstehen. Das Deutsche Theater hatte 1964 bei Heiner Müller eine Dramatisierung des Romans Spur der Steine bestellt. „Der Bau“, wie das Stück dann hieß, wurde zweimal in die Proben geschickt und mußte jedesmal auf Weisung wieder abgesetzt werden. 14 Jahre später erlebt er konfliktlos seine Uraufführung an der Volksbühne, und er wurde in Halle und Karl-Marx-Stadt nachgespielt. Als der „Faust“ des Deutschen Theaters seiner neuen, unüblichen Sicht wegen von Walter Ulbricht vor dem Staatsrat kritisiert wurde, galten die vorangegangenen „Faust“-Inszenierungen von Weimar und Leipzig als vorbildhaft; spätere Inszenierungen wandelten aber in den Berliner Spuren und nicht in denen von Leipzig und Weimar. Der Fortschritt kann also gebremst, aber nicht dauerhaft aufgehalten werden. Es schien, als hätte das Regime das in seinem letzten Jahrzehnt begriffen. Allmählich war fast alles möglich, sogar Heins „Ritter der Tafelrunde“ und Brauns „Übergangsgesellschaft“, Stücke, die bitterernst Kritik an den erstarrten Verhältnissen übten. Aber welch arger Weg der Erkenntnis, welch vergeudete Lebenszeit, welch verfehlt eingesetzte Energien und welche Verzweiflung mitunter auch ...

Liest man jetzt allerdings, was über die Arbeiten von Alexander Lang und Adolf Dresen im Buch geschrieben steht, bleibt doch verwunderlich, daß beide unter diesen Umständen die produktivste Phase ihres Künstlerlebens verbrachten.

Theaterleiter waren durch diese Umstände natürlich rechtlich in einer unsicheren Lage, dafür war die Demokratie innerhalb der Theater ziemlich entfaltet. Um Intendantenwillkür und existentielle Unsicherheiten abzubauen, war das darstellende Personal fast unkündbar gestellt, und die Gewerkschaften und ihre Gremien meldeten vielfache Mitspracherechte an, die ernst genommen werden mußten. Der Theaterverband stärkte das Selbstbewußtsein und die Argumentationsfähigkeit der Darsteller und Regisseure, indem er den überterritorialen und internationalen Erfahrungsaustausch organisierte. Daß Schauspieler kein Risikoberuf mehr war, hatte zwei Folgen: Einerseits förderte der Umstand das Darstellerbeamtentum (öffentliche Leistungsvergleiche und Wettbewerbe sollten zwar den künstlerischen Ehrgeiz wachhalten, wirkten aber nur bedingt in dieser Richtung), andererseits sorgte er oft für ein Klima langjähriger freundschaftlicher Zusammenarbeit ohne Ellenbogenmentalität (miteinander verschworene Ensembles konnten auch Regisseure und Intendanten auflaufen lassen). Um seine Existenz jedenfalls mußte niemand bangen, zumal jede Kommune ihr Theater in allen seinen Sparten stets vehement verteidigte. Es gab deshalb in der DDR also nicht nur und nicht überall und immer Unbehagen, und nicht jeder Künstler zog in der BRD auch das bessere Los.

Das alles kann nicht allein aus Statistiken abgelesen werden, in dieser Hinsicht sind Rischbieter und seinen Mitarbeitern kaum Vorwürfe zu machen. Die Entwicklung muß wohl von denen kritisch und selbstkritisch aufgearbeitet werden, die sie durchlebt haben. Die Filmleute sind mit der DEFA-Geschichte wacker vorausgegangen (Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg, 1993) - warum sollten Theaterleute wie Mittenzwei und Fiebach, Münz und Rohmer, Schumacher, Funke und Kranz ihren Spuren nicht folgen? Die künftige Theatergeschichtsschreibung muß noch einen Schritt weiter gehen als dieses Buch in der gleichberechtigten Darstellung der Entwicklung in beiden deutschen Staaten, zumal das Interesse an einer differenzierten Sicht auf die Kunst der ehemaligen DDR wächst, wie die Diskussion um die Weimarer Kunstausstellung zeigt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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