Eine Rezension von Gisela Reller


Vom letzten und zugleich wichtigsten Teilchen im großen Stalin-Puzzle

Richard Lourie: Stalin
Die geheimen Aufzeichnungen des Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili.

Roman. Aus dem Amerikanischen von Hans J. Becker.
Luchterhand Literaturverlag, München 1999, 344 S.

 

Ich hatte mir von den als sensationelle fiktive Autobiographie Stalins angekündigten „Aufzeichnungen“ weit mehr versprochen. Wäre Louries Buch die erste Enthüllung über Stalin, dann wäre sie tatsächlich eine Sensation. So aber ist lediglich historisch präzise recherchiert, bienenfleißig zusammengetragen, eindrucksvoll geschildert - der Aufstieg Stalins vom Schuhmachersohn in einem kleinen georgischen Dorf, der Priester werden sollte, zum mächtigsten und gefürchtetsten Mann der UdSSR. Neben den Stationen seiner politischen Karriere werden Stalins geheime Wünsche und Ängste offenbar: daß er sich für einen großen Dichter hält, wie er sich die ideale Ehe vorstellt, warum ihm jedes Mittel recht ist, nach oben zu kommen, und wie groß sein sich immer mehr steigernder Verfolgungswahn ist. Wenn man hier und da wirklich auf neue Details stößt, weiß man durch die geschickte Mischung von Fakten, Spekulationen und Fiktion natürlich nicht, ob jene Einzelheiten fiktiv oder wahr sind. Vorsichtshalber hat Luchterhand das vorliegende Buch als Roman deklariert. Ein Roman? Wie kann ein als (fiktive) Autobiographie geschriebenes Buch ein Roman sein?

Hat Lourie selbst gespürt, daß er mit seiner an sich grandiosen Idee zu spät kommt? Jedenfalls versucht er - wie in einem billigen Krimi - den Leser bei der Stange zu halten, indem er ihn - obwohl es in dem Buch von grausamen Taten nur so wimmelt („Als Stalin mußte ich nicht mehr menschlich sein.“) - vor noch grausameren bangen läßt: „Doch es gibt auch Verbrechen, die niemals ans Licht kommen dürfen. Eins von dieser Sorte habe ich begangen.“ Und weiter S. 19: „...das Verbrechen, das Trotzki nie aufklären darf“; auf S.60: „Mein geheimes Verbrechen...“ usw.

Ja, was ist d a s Verbrechen denn nun? Es ist der Mord an einem Mann, „brillant, nicht unterzukriegen, skrupellos, mit Zehntausenden Morden auf dem Gewissen“ - LENIN. Ja, du meine Güte, auch diese Enthüllung ist keine. Daß Stalin den kranken Lenin vergiftet haben soll, wird schon Jahrzehnte gemunkelt. Doch nachzuweisen war und ist der Giftmord an der (deshalb?) einbalsamierten Leiche Lenins nicht. Auch von Lourie nicht. Auf 330 Seiten also nur ein billiger Trick, der verärgert. Mich jedenfalls.

Sicherlich ist doch beabsichtigt, daß der Leser zumindest zeitweise vergißt, daß es einen Autor gibt. Er soll über weite Strecken verführt werden zu glauben, daß er tatsächlich die geheimen Aufzeichnungen Stalins in Händen hält. Aber dieser Effekt tritt eigentlich nie ein, befördert noch dadurch, daß Stalin von sich oft und gern in der 3. Person sprach und schrieb. Natürlich konnte Lourie nicht umhin, diese eitle stalinsche Eigenart zu berücksichtigen, aber einer angeblichen Autobiographie ist dies nicht förderlich.

Die „geheimen Aufzeichnungen“ beginnen mit Stalins späterem Erzfeind Trotzki und enden mit Trotzkis von Stalin bis ins kleinste organisierten, uns ebenfalls schon hinlänglich bekannten Eispickel-Mord. Der lange vorbereitete Mord an dem in Mexiko im Exil lebenden Trotzki gelang nach einigen Pannen 1940. Die „Aufzeichnungen“ haben also eine Trotzki-Rahmenhandlung. Schade. Ich hätte gern noch Stalins persönliche Bemerkungen zum Großen Vaterländischen Krieg und seiner eigenen Rolle gelesen. Obwohl, Lourie wären auch da keine anderen als die vorhandenen Fakten zugänglich gewesen.

Sicher hat sich nicht jeder Leser eingehend mit den unvorstellbaren Verbrechen des vom Vater oft brutal verprügelten Schustersohns beschäftigt. Für diejenigen könnte das Buch von Verrat, Kaltblütigkeit und Mord eine Offenbarung sein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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