Eine Rezension von Gerhard Keiderling


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Überleben nach dem Zusammenbruch

 

Rosemarie Köhler: Brennesselsuppe und Rosinenbomber
Das Berliner Notkochbuch. Rezepte, Erfahrungen und Hintergründe 1945-1949.

Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1999, 229 S.

 

„Falsche Bratheringe“, „Eichelblutwurst“, „Molkensuppe“, „gekochter Kuchen ohne Mehl“ - diese und manch weitere „Spezialitäten“ standen in der schweren Nachkriegszeit auf dem Speiseplan fast aller Haushalte, denn Schmalhans war überall Küchenmeister. Rosemarie Köhler hat über 300 solcher Rezepte aus zeitgenössischen Kochbüchern, Spar- und Haushaltsratschlägen, Zeitungen und Zuschriften vieler Berliner zusammengetragen, sie durch Pressemeldungen und Auszüge aus Lebenserinnerungen ergänzt und mit zahlreichen Faksimiles und Fotos versehen. So entstand ein kurzweiliges Koch- und Lesebuch, in dem Alltagsgeschichte in Geschichten erzählt wird und dessen Rezepte auch heute nachkochbar sind, sofern man gewisse Ingredienzen wie Eichelmehl, Eigelbfarbe, erfrorene Kartoffeln, Kaffee-Ersatz oder Molke griffbereit in der Küche hat. Neben den kostbaren, weil so knappen „Grundstoffen“, wie z. B. Getreide, Kartoffeln, Fleisch, Obst, Gemüse und Wildkräuter, werden auch die „Genüsse in der Not“ vorgestellt: Tunken und Soßen, Marmelade und Sirup, Kuchen und selbst gebrannte Bonbons. Wenn die dekadenmäßige Zuteilung auf Lebensmittelkarte erschöpft war, boten Schwarzmarkt, Schiebereien, Hamsterfahrten, „Ährenlesen“ und „Kartoffelstoppeln“ noch eine zusätzliche Nahrungsquelle. Privilegien für politische Eliten, Künstler u. a. gab es in Ost („Pajoks“) wie in West (CARE-Pakete). Die Autorin rühmt den Einfallsreichtum der Berliner Hausfrauen, mit dem sie den Nachkriegsalltag bewältigten. Nun ja, die Älteren unter ihnen kannten viele Koch- und Sparrezepte schon aus den beiden Weltkriegen, etwa die Verwertbarkeit der Kohlrüben und Kartoffelschalen und auch die beliebte Kochkiste.

Die Ernährungslage in Berlin wird chronologisch geschildert, beginnend mit der Neuregelung der Lebensmittelversorgung am 15. Mai 1945 und endend in der Blockadezeit von 1948/49. Leider gibt es in diesen historischen Abschnitten manche Auslassungen, Einseitigkeiten und Fehler. Einige Beispiele: Die im Mai 1945 vom sowjetischen Stadtkommandanten angeordnete und wenig später von der Alliierten Kommandantur übernommene Rationierung der Lebensmittel nach vier Kategorien war keineswegs „ungerecht“ oder „als physische Strafe gedacht“. Die Autorin übersieht, daß die Einteilung der Bevölkerung in Normalverbraucher, Schwerarbeiter usw. auch in den Westzonen Usus war. Die Festlegung der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin, daß jede Besatzungsmacht die Versorgung ihres Sektors übernimmt, führte zu ungleichen Situationen. So auch bei der im November 1945 beginnenden Schulspeisung, die später nur im Ostsektor markenfrei verabreicht wurde. Das legendäre „Kotikow-Essen“, das seit Juni 1948 in Betrieben und Verwaltungen des sowjetischen Sektors ausgegeben wurde, findet im Buch keine Erwähnung. Unterschiedliche Entwicklungen zwischen West- und Ostberlin gab es auch bei der Bekämpfung des Schwarzmarktes. So kam es im Dezember 1948 in Ostberlin zur Gründung der Staatlichen Handelsorganisation (HO). In deren Kaufhäusern, Geschäften und Restaurants kauften Westberliner während der Blockade aufgrund eines vorteilhaften Wechselkurses zwischen DM Ost und DM West preiswert ein. Neueste Forschungen zum 50. Jahrestag dieses Ereignisses kamen zu dem Schluß, daß es eine „Hungerblockade“ nie gab und die Versorgung der Westberliner mittels der „Rosinenbomber“ trotz Einschränkungen zu keiner Zeit gefährdet war. Davon liest man allerdings nichts im Buch. Überhaupt ist die Darstellung der Ernährungslage sehr westlastig. Standardquellen sind die Westberliner Zeitungen „Der Berliner“, „Der Kurier“ und „Der Tagesspiegel“. Ostberliner Presseorgane und andere Quellen sucht man vergebens. Für eine Neuauflage des Titels sollte auch die umfängliche historische Fachliteratur besser ausgewertet werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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