Eine Rezension von Horst Wagner


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Freche Sprüche und ernste Systemkritik

 

Torsten Hilse/Dieter Winkler (Hrsg.): Die Fragen und die Freiheit
Schubladentexte aus der DDR.

verbum Druck und Verlagsgesellschaft, Berlin 1999, 201 S.

 

„Wo wir sind, klappt nichts - aber wir können nicht überall sein“; „Wir kennen zwar den Plan nicht - aber wir bringen das Doppelte“; „Jeder wird so lange befördert, bis er mit Sicherheit unwirksam ist“. Wer als gelernter DDR-Bürger kennt solche und ähnliche freche Sprüche nicht? Von Mund zu Mund kolportiert, wirkten sie - auch schärferen politischen Witzen gleich - als Ventil für Unzufriedenheit über kritikwürdige Zustände. Sie sind eigentlich keine „Schubladentexte“, aber da sie zu DDR-Zeiten natürlich nicht gedruckt wurden, passen sie, hier gesammelt und neben systemkritische Gedichte gestellt, durchaus in dieses Bändchen und stellen sozusagen seinen heiteren Teil dar.

Wesentlich ernster geht es da schon in der Titelgeschichte „Die Fragen und die Freiheit“ zu, einem Theaterstück von Mitherausgeber Dieter Winkler, einem Kulturwissenschaftler, das er 1968 unter dem Eindruck des „Prager Frühlings“ geschrieben hat. Versuche, es unter dem Pseudonym Peter Kettner erst in Prag, später im Westen herauszubringen, waren leider gescheitert. Was um so mehr zu bedauern ist, da dieses unter Studenten spielende Stück - sie diskutieren die Mundtotmachung eines von ihnen verehrten, weil undogmatischen Marxismus lehrenden Professors - schon damals auf Kernfragen zielte, deren Nichtbeachtung bzw. rigide Unterdrückung durch die Herrschenden sich aus heutiger Sicht ganz wesentlich für den Untergang der DDR darstellen: Geistige Selbstbestimmung, offene Demokratie in Gesellschaft und führender Partei, Möglichkeit der Kritik an den Regierenden und der Diskussion über Fehler, Freiheit auch als Freiheit der Andersdenkenden - das sind nur einige der Fragen, die von den zeitweilig geistig aufbegehrenden, sich dann aber mehrheitlich aus Furcht oder Opportunismus fügsam erweisenden Studenten gestellt werden.

Vom selben Autor unter selbem Pseudonym stammen die köstlichen „Göttergespräche“ aus den Jahren 1982-1990. Köstlich, weil durch Themenauswahl und Diktion („neue Menschen“, „wissenschaftliche Weltanschauung“, Hauptaufgabe: einen stets schöneren Himmel zu schaffen, „damit die Menschen noch mehr Anlaß haben, zufrieden und begeistert zu uns herauf zu schauen“), bald erkennbar wird, daß diese Götter ihren Sitz nicht so sehr im Olymp, sondern wohl eher im Politbüro haben. Wobei der Autor deren Diskussionsbereitschaft wesentlich überschätzt haben dürfte. Winkler schließt seine „Göttergespräche“ - und damit auch den Sammelband - mit dem „Protokoll eines Gesprächs der (ehemaligen) Götter“ aus dem Jahr 1991, in dem sie zu der Erkenntnis kommen: „Die Menschen wollten uns nicht mehr. Sie wollten andere Götter. Sie wollten Mammon.“ Als Grund für die Überlegenheit der neuen Götter sehen sie, daß diese die Menschen ihres Glückes eigener Schmied und damit auch selbst schuldig für eigenes Unglück sein lassen. Sie vermuten aber auch: „Die Menschen werden immer mehr an Mammon zweifeln, weil der seine Versprechungen auch nicht halten kann.“

Unter den anderen Beiträgen seien drei heute wie Politsatiren erscheinende, aber durchaus echt dokumentierte Briefwechsel mit staatlichen Stellen genannt: eines Superintendenten wegen der Nichtzulassung seiner Tochter zur EOS, eines Ingenieur-Ökonomen wegen der Ablehnung einer Westreise in „dringenden Familienangelegenheiten“ sowie eines Jugend-Sozialdiakons wegen Nichtauslieferung der Moskauer Zeitschrift „Neue Zeit“. Dem Thema Ausreisewunsch ist das moderne Märchen „Vom Fischer und sin Fru“ gewidmet, wobei der Autor, ein Gemeindepfarrer aus Hohenschönhausen, am Ende den Wunsch, „Ich will hier raus“, umschlagen läßt in das Gefühl, „Ich werde hier gebraucht“. Die 1977 aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassene Textil-Designerin Uta Thiam schildert in einer reportagehaften Erzählung einen Vorwende-Besuch in Marzahn und in einem Ostberliner Pflegeheim und führt dabei interessante Vergleiche von Wertvorstellungen und sozialen Befindlichkeiten in Ost und West.

Insgesamt enthält das Buch 14 Veröffentlichungen von 11 Autoren. Über die Auswahl läßt sich sicher streiten. Manche Leser werden manches zu harmlos, noch zu DDR-freundlich finden. Mitherausgeber Dieter Winkler sieht den Sammelband als Gegenpol bzw. Ergänzung zu den sich vornehmlich auf MfS-Akten und Dokumente aus dem Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR stützende Beschreibung des DDR-Herrschaftssystems sowie von Ehrhard Neuberts umfangreicher Geschichte der Opposition in der DDR. Er versteht ihn als einen „spezifischen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR“, der weder Behörden noch Personen denunzieren soll, und wünscht, daß nicht nur ehemalige Gegner oder Kritiker des untergegangenen Staates diese Arbeiten lesen, „sondern auch einstige Aktivisten der DDR“. Ein Wunsch, dem der Rezensent nur zustimmen kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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