Eine Rezension von Helmut Caspar


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Die Nacht der Nächte

 

Hans-Hermann Hertle/Kathrin Elsner: Mein 9. November
Der Tag, an dem die Mauer fiel.

Nicolai Verlag, Berlin 1999, 272 S.

 

Daß am späten Abend des 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war eigentlich ein Betriebsunfall. Denn die DDR-Regierung hatte den Plan, erst am 10. November ihren Bürgern nach Antragstellung die zeitweilige Überschreitung der Grenze beziehungsweise ständige Ausreise „ohne Vorliegen von Voraussetzungen“ zu gestatten. Wie es jedoch dazu kam, daß die eher beiläufige Aussage des SED-Funktionärs Günter Schabowski auf der routinemäßigen Pressekonferenz in Berlin am Abend des 9. November 1989, die neue Reiseregelung trete „ab sofort, unverzüglich“ in Kraft, von vielen Ostberlinern so verstanden wurde, daß sie zu Tausenden mit und ohne Trabi zu den Übergangsstellen strömten und die Öffnung des Stacheldrahts bei den völlig überraschten, in höchstem Maße verunsicherten Grenzern durchsetzten, um dann auf dem Ku’damm mit den Westberlinern ausgelassen Verbrüderung zu feiern, schildern die Erlebnisberichte in der mit aktuellen Fotos und Reproduktionen von Schriftstücken, darunter auch „Schabowskis Zettel“, illustrierten Dokumentation über die „Nacht der Nächte“ vor zehn Jahren. Hans-Hermann Hertle und Kathrin Elsner haben an dem ungewöhnlichen, von vielen lang ersehnten Geschehen beteiligte Zeitzeugen - Politiker, Sicherheitsleute, Militärs, Journalisten, Künstler und viele einfache Menschen von der Straße - befragt, sie um die Schilderung ihrer Eindrücke und Erlebnisse in den dramatischen Stunden gebeten, als nach 28 Jahren Stacheldraht und Betonmauer keine Bedeutung mehr hatten. Viele Informationen sind neu, etwa über die Unsicherheit und dazu erstaunlicherweise auch Uninformiertheit in der Ostberliner Stasizentrale, beim Armeekommando und verschiedenen Ministerien sowie bei der SED-Führung bezüglich der Frage, wie man auf die Macht des Faktischen reagieren soll, oder über die hektische Betriebsamkeit, die die ersten Meldungen bei Vertretern des Westberliner Senats und in der Bundesregierung in Bonn auslösten. Detailliert wird auch geschildert, wie der gerade in Warschau weilende Kanzler Kohl und die Führungen der vier Großmächte informiert wurden, welches die ersten Reaktionen in den Lagezentren waren, wo keine Geheimdienstberichte, sondern anfangs nur eher kärgliche Informationen der Nachrichtenagenturen vorlagen, denen man anfangs kaum Glauben schenken wollte. Deutlich wird etwa durch Erinnerungen von Egon Krenz, daß es ihm unmöglich war, seinem Pendant in Moskau, Michail Gorbatschow, aus erster Hand über den Fall der Mauer zu berichten, weil der nur im Falle eines Krieges aufgeweckt werden konnte. Der Leser erfährt auch einiges über die Furcht der Regierenden in Westberlin, die ungestüm gegen die Zäune drängenden Ostberliner könnten nicht rechtzeitig durch die Öffnungen durchgelassen und daher zerquetscht werden. Leider schildert das Buch hauptsächlich nur die Ereignisse in Berlin, spart aber bis auf wenige Blicke ins Umland aus, was sich sonst entlang der deutsch-deutschen Grenze abspielte. Wünschenswert wäre es auch gewesen, die jenseits aller Euphorie und Gefühlsseligkeit nicht in jedem Fall positiven Reaktionen führender Politiker in Ost und West und ihre Besorgnisse hinsichtlich eines sich „vergrößernden“ Deutschlands zu dokumentieren. Ganz sicher wird man dergleichen sowie die Folgen der Maueröffnung in anderen Dokumentationen nachlesen können.

Das als Begleitband konzipierte Buch zu einer ARD-Dokumentation, die am 9. November 1999 ausgestrahlt werden soll, zeigt, daß besser als die Politiker informierte Journalisten als erste vor Ort waren und letztlich durch ihre Meldungen vollendete Tatsachen schufen, also dafür sorgten, daß die Leute beiderseits der Grenze noch in der Nacht wieder aufstanden und zu den Übergangsstellen drängten. Hier wurde, so belegen viele eindrucksvolle Aussagen, den ganz und gar überforderten Bewachern sehr schnell klar, daß es ein Zurück nicht mehr geben wird. Schußwaffen anzuwenden war ihnen ohnehin verboten, aber es hätte auch böse Unfälle in dem Durcheinander geben können. Die hier erstmals veröffentlichten Aussagen verdeutlichen zudem, wie schnell man sich hüben und drüben auf die neue Lage einstellte. Ob jedem Zeitzeugen damals schon klar war, daß diese Grenzöffnung auch das Ende der DDR einläutet und der Anfang des Wiedervereinigungsprozesses ist, mag dahingestellt sein. Auf alle Fälle dürften viele Leute, die das im nachhinein behaupten, nicht geahnt haben, wie lang der Weg zur wirklichen Einheit noch sein wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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