Eine Rezension von Bernd Heimberger


Herumirren im Internet?

Volker Hage/Rainer Moritz/Hubert Winkels (Hrsg.): Deutsche Literatur 1998
Jahresrückblick.

Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, 302 S.

 

Mehr oder weniger deutlich im Vordergrund, war er stets der sichere stabilisierende Hintergrund des „Jahresüberblicks“ zur Deutschen Literatur. Volker Hage, früher „Die Zeit“, schon eine gute Weile „Der Spiegel“, ist auch der Herausgeber der 18. Ausgabe des Periodikums. Er ist der Initiator des Jahrbuchs, das unterm Schutz von Reclam, Stuttgart, erschien und nicht ein trotziges Pendant zur Ost-Deutschen „Kritik“-Reihe des Mitteldeutschen Verlages, Halle, sein wollte und sollte.

Soeben volljährig geworden, kündigt Hage nun emotionslos das Ableben an. Scheinbar ohne Schmerz wird adieu gesagt. Für die empfindsamen Gemüter wird vorsorglich tröstend hinzugefügt, daß der endgültige Schluß mit der Ausgabe Deutsche Literatur 1999 gemacht wird. Nicht, weil wir uns dann bereits im nächsten Jahrtausend befinden und es lächerlich wirkt, wenn auf die Ruinenreste des letzten Jahres des zweiten Jahrtausends zurückgeschaut wird. Hage nennt andere, halbwahre Gründe: Die modernen Zeiten machen der bisherigen Form des ausgewählt-gesammelten Ausdrucks jährlichen Literaturgeschehens den Garaus. Zu gut deutsch: Wir müssen uns fortan andernorts die Augen verderben. Angesagt ist das Herumirren im Internet. Das bedeutet, daß vom „altmodischen“ Buch Abschied genommen wird. Sagt so kategorisch der Herausgeber nicht. Mit altmodisch meint er die traditionelle Form der Dokumentation. Wer mag dem Mann widersprechen? Weiter gedacht, wird einem ganz mulmig, denn irgendwann wird irgendwer kommen und den Buch-Druck als altmodisch verwerfen. Zu prophezeien ist, daß eher die Briefmarke verschwindet, bevor das Buch ausstirbt.

Wer wird dem Jahresrückblick nachtrauern, wenn er in dieser „Form des Nachdrucks“ nicht mehr publiziert wird? Wem treibt die Ankündigung des unaufhaltsamen Todes die Tränen in die Augen? Apropos Augen! Reden wir doch einmal davon, daß es schon einer besonders guten Sehschärfe bedurfte, das Kompendium zu verkraften. Soviel Kleingedrucktes zur Literatur, das genau nach- und neu gelesen sein wollte, gab’s kein zweites Mal auf dem Markt. Trieb dem einen die strapaziöse Kneisterei die Wut in die Augen, so den anderen die unzulässigen Auslassungen. Wer nicht akzeptierte, daß eine geschlossene Literaturgesellschaft hinter verschlossener Tür kreißte und gebar, zog sich alljährlich Zorn ins Haus. Was außerhalb sechs, sieben, acht deutschen und zwei, drei Schweizer Zeitungen in der literarischen Landschaft blühte, war für die kultivierte Publikation Wildwuchs.

Sicher hat Volker Hage nicht undemokratisch im Sinn gehabt, als er „altmodisch“ sagte. Sicher ist, daß das Kompendium eher eine Krücke für germanistische Kolloquien war als ein liebenswerter Leitfaden für die Freunde der Literatur. Fällt der ganzen Literaturgesellschaft mit dem Verschwinden des Kompendiums ein Stein vom Herzen? Demokratisiert das Internet den Jahresüberblick? Wer, zum Beispiel, im Internet Jürgen Fuchs: Magdalena ab- und aufruft, wird Dutzende Reaktionen und Rezensionen zu dem Buch finden. Dem Jahrbuch Deutsche Literatur 1998 sind Autor und Buch außer einigen Absätzen in der Einleitung nur die schlichte Registratur wert. Dafür gibt’s, von Heller Eckert bis Ralf Rothmann, Ausführliches über „Neue Bücher“, die heute schon alt aussehen. Gewiß wird’s in der kommenden, allerletzten Ausgabe, in der „Chronik“, noch eine letzte Eintragung zu Jürgen Fuchs geben: 9. 5. - im Alter von achtundvierzig Jahren stirbt in Berlin der Bürgerrechtler, Psychologe und Autor Jürgen Fuchs, der sich mit seinem Stasi-Roman Magdalena einen Namen machte. Das war’s dann. Tschüs denn. Man sieht sich. Im Internet.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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