Eine Rezension von Bernd Grabowski


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Kaleidoskop der Skandale und Mißerfolge

 

Ludger Claßen/Achim Nöllenheidt: Nobody is perfect
Die wahre Geschichte der Bundesrepublik.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1999, 143 S.

 

Was wurden nicht alles für Reden gehalten, Sonderschauen gestaltet, Artikel und Bücher geschrieben zum 50. Jahrestag der Bundesrepublik! Dabei standen selbstverständlich die Erfolge im Vordergrund. „Wer aber denkt bei den Feierlichkeiten an die vielen fehlgeschlagenen Vorhaben, Projekte und Karrieren der letzten 50 Jahre?“ fragen Ludger Claßen und Achim Nöllenheidt in ihrem kleinen Lexikon zu Personen und Ereignissen der jüngsten deutschen Geschichte. Die beiden Publizisten haben jedenfalls daran gedacht. Und einige dieser Negativposten - insgesamt 172 - haben sie in ihrem Büchlein unter dem treffenden Titel Nobody is perfect zusammengetragen.

Niemand ist perfekt - nicht einmal der greise Gründer der Bundesrepublik Konrad Adenauer, auch nicht die nachfolgenden Kanzler. Sogar Amtsdauerrekordhalter Helmut Kohl bekommt sein Fett weg. Lediglich Neuling Gerhard Schröder bleibt von beißender Kritik ausgespart. Daß die Autoren ihn für den einzigen perfekten Regierungschef der BRD halten, kann man kaum glauben. Oder wollen sie es sich nicht mit einem verderben, der noch an den Schalthebeln der Macht sitzt?

Ebenso verschonten sie die Bundespräsidenten in der Aufzählung der Persönlichkeiten, deren Namen mit Affären, Blamagen, Betrugsmanövern, Vetternwirtschaft und mißlungenen Aktionen verbunden sind. Ob hier vielleicht die Ehrfurcht vor dem hohen Staatsamt die Autoren gehindert hat, sogar auf einen Vers über „Bundesheini“ Lübke zu verzichten? Nur der Neuling Johannes Rau ist mit einem Eintrag bedacht worden. Allerdings kann sein Fauxpas, begangen als nordrhein-westfälischer Wissenschaftsminister, schon als verjährt gelten. Denn bespöttelt wird lediglich dessen Kontroverse mit Joseph Beuys, der 1972 auf Raus Betreiben hin seinen Lehrstuhl an der Kunstakademie Düsseldorf vorübergehend verlassen mußte. Ferner ist Fast-Bundespräsident Steffen Heitmann berücksichtigt. Er war zwar vom CDU-Bundesvorstand einstimmig als Kandidat für die Weizsäcker-Nachfolge nominiert worden. Doch er „schaffte es, sich in nur knapp zwei Monaten durch verschiedene Äußerungen gleich mehrfach zu disqualifizieren“. Denn diese Äußerungen hatten ihn „in Reih und Glied mit dem Rechtsradikalismus“ gestellt und ihm die „Empörung ... aus allen gesellschaftlichen Bereichen“ eingebracht. So mußte er am 25. November 1993 darauf verzichten, sich zur Wahl zu stellen. Schade, daß die Autoren nicht darüber spekuliert haben, warum Heitmanns empörende Auslassungen seiner Karriere als sächsischer Justizminister nicht schadeten.

Im übrigen hatten Claßen/Nöllenheidt keine Not, aus der Vielzahl gescheiterter Existenzen genügend Fälle für ihr Lexikon zu finden. So zeigen sie mit dem Finger auf die CDU-Politiker Hans Filbinger, Hans Krüger und Theodor Oberländer, die über ihre braune Vergangenheit stolperten, machen sich lustig über die Sportler Katrin Krabbe und Peter Müller, die gesperrt wurden wegen Dopings bzw. wegen K.-o.-Schlagens eines Ringrichters, führen die Pleite-Unternehmer Horst-Dieter Esch, Dietrich Garski, Iwan Herstatt und Jürgen Schneider vor, erinnern an Schlagzeilen in Verbindung mit den Fernsehmoderatoren Werner Höfer (Hitlers „Schreibtischtäter“) und Margarethe Schreinemakers („Steuerhinterziehung“). Die DGB-Funktionäre Bernd Otto und Franz Steinkühler seien wohl „mehr Kassenkämpfer als Klassenkämpfer“ gewesen. Die Gesangsgruppe Milli Vanilli verzeichnete zwar gute Resonanz mit ihrem Plattendebüt, hatte dazu aber keinen Ton beigesteuert. In manchen Fällen weisen die Autoren nicht den Verlierern, sondern deren Gegenspielern den Schwarzen Peter zu. So stehen die Dinge grundsätzlich anders bei den Regisseuren Rainer Maria Fassbinder, Claus Peymann und Peter Stein. Ersterer scheiterte 1966 bei der Aufnahmeprüfung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, die beiden anderen 1979 bzw. 1968 an ihrem „erzkonservativen Umfeld“ in Stuttgart und München.

Satirisch beleuchtet werden auch charakteristische Vorgänge in der Geschichte der Bundesrepublik. Dazu zählen der Werdegang des Schnellen Brüters in Kalkar, die Ohne-mich-Bewegung gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht, das zerbrochene Bündnis für Arbeit, die Planung eines Autotunnels durch das Ruhrgebiet, der ökologisch bedenkliche Bau des Main-Donau-Kanals, das vergebliche Bemühen um die Prägung einer 25-Pfennig-Münze, die Bewerbung Berlins um Olympia 2000, der Streit um die Startbahn West für den Rhein-Main-Flughafen, die Pannen des Bundesgesundheitsamtes, die juristischen Spitzfindigkeiten um die Versorgungs- und Wiedereinstellungsansprüche der Beamten des NS-Regimes.

Auch das Ende der DDR hat seinen Platz in dem Kaleidoskop der Skandale und Mißerfolge, obwohl dieser Staat „nicht unmittelbarer Bestandteil der bundesrepublikanischen Geschichte“ ist. Doch das Scheitern der DDR, so argumentieren die Autoren, war „zugleich der Anfang für eine neue Bundesrepublik und damit in gewisser Hinsicht ein erfolgreiches Scheitern - selbst wenn die Einführung der Massenarbeitslosigkeit in das Staatsgebiet der ehemaligen DDR und andere Begleiterscheinungen der ,Wende‘ den Erfolg der sogenannten ,Wiedervereinigung‘ schmälern“.

Das Buch sei „der reinen Freude, Unterhaltung und Erbauung der geneigten Leserschaft verpflichtet“, heißt es im Vorwort. Doch reine Freude spürte ich beim Lesen nur selten. Zugegeben, einiges ist amüsant, läßt Schadenfreude aufkommen. Doch das meiste stimmte mich nachdenklich und erregte meinen Zorn: Wie konnten sich manche mit dubiosen Manipulationen um Millionen bereichern, was konnten Parteigänger Hitlers in der Bundesrepublik für eine glänzende Karriere machen, wie konnte der Staat es wagen, wiederholt das hohe Gut der Meinungs- und Pressefreiheit anzugreifen!

Ich kann den Autoren auch nicht folgen mit ihrer Ansicht, nicht lediglich eine besondere Darstellung vorgelegt zu haben, sondern vielleicht sogar die wahre Geschiche der Bundesrepublik, denn eine Mißerfolgs- wie eine Erfolgs-Story ist nicht die ganze, sondern nur die halbe Wahrheit. Ebensowenig kann ich mich mit der entschuldigend wirkenden Begründung anfreunden, weshalb die Ansammlung von Mißerfolgen die wahre Geschichte widerspiegele; „denn zum Erfolg gehören immer vergebliche Versuche - ja, Erfolge sind oft nichts weiter als das Ergebnis eines gescheiterten Projekts“. Das mag zwar für die Geschichte einer wissenschaftlichen Entdeckung voll zutreffen, kaum aber für die Geschichte eines Staates. Wie soll in diese Theorie beispielsweise jener Mann eingeordnet werden, dessen Paßfälschung nur deshalb sofort auffiel, weil als Geburtsdatum der 30. Februar eingetragen war. Diese Begebenheit, vermutlich einer Zeitung vom 1. April entnommen, paßt weder in die Theorie noch in das Buch. Es sei denn, man betrachtet den Erfolg der Polizei als Ergebnis des gescheiterten Projekts der unvollkommenen Paßfälschung.

Niemand und nichts ist perfekt, auch ein Buch nicht, und so verdient Nobody is perfekt ungeachtet dieser Einwände und ein paar Ungenauigkeiten große Anerkennung. Denn erst mit dieser Publikation zusammen werden die anderen historischen Abhandlungen zur wahren Geschichte der Bundesrepublik.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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