Eine Rezension von Sibille Tröml


„Man fragt sich, warum die Menschen so blind sind“

Urs Widmer: Vor uns die Sintflut
Geschichten.

Diogenes Verlag, Zürich 1998, 166 S.

Das Jahrhundert geht zu Ende und mit ihm auch gleich noch ein Jahrtausend - wen wundert’s, daß da (nicht nur) einer Gedanken und Szenarien über d a s Ende verfaßt? Doch halt.

Die insgesamt 21 kleinen Geschichten des Schweizers Urs Widmer, die das vorliegende Bändchen vereint und die bis auf zwei bereits allesamt schon einmal - vor allem im „NZZ Folio“ - veröffentlicht wurden, sind anders. Sie sind anders als vieles von dem, was uns den Untergang von A wie Apokalypse bis Z wie Zerstörung in schillerndsten Farben und schrecklichsten Schreckensvisionen verkauft, weil in ihnen nicht das Entsetzen, das Kribbeln, der neuhochdeutsche „Thrill“ dominiert und trotzdem auch „der Bauch“ auf seine Kosten kommt. Doch es ist ein Bauch und damit eine Gefühlswelt, zu dem auch ein Kopf und damit wiederum ein Verstand gehören. Daß beide darüber hinaus noch in einer nicht nur theoretisch, sondern sogar praktisch vorhandenen Verbindung stehen, ist eine im Metier der Untergangsfiktionen nicht gerade häufig zu findende Kombination. Aber damit hat sich das Anders-Sein der Widmerschen Geschichten keineswegs erschöpft. Denn: Urs Widmer wäre nicht Urs Widmer, würde er, selbst wenn es um das Ende geht, nicht das Geist-Reiche mit Ironie, Satire, Groteske und Humor sagen.

Dies wiederum garantiert, was selten ist in der anspruchsvollen deutschen (wohlgemerkt nicht in der anspruchsvollen deutschsprachigen, z. B. Schweizer) Literatur, nämlich Unterhaltung. Zeitvertreib, Vergnügen, Belustigung, Gespräch (mit dem Lesenden) - all diese Facetten des hierzulande nach wie vor immer noch mit dem vermeintlichen Verdikt des Flachen, ledig lich Konsumorientierten versehenen Begriffs werden mit dem kleinen Band Vor uns die Sintflut „bedient“. So etwa in „Das Geheimnis der Greise vom Kaukasus“, jenem Monolog über das Nicht-alt-werden-Wollen angesichts des Zustandes unserer Welt. Oder in dem Märchen „Bei den Augen-Menschen“, das von der unersättlichen und deshalb zerstörerischen Gier nach Schönem erzählt. Oder in der titelgebenden Geschichte, die einem der - wie wir erfahren - vielen Noah-Verehrer, Mijnheer Vanderblöden (!), seiner Arche und seinem ersten, kurzzeitigen Sintflut-Erlebnis erzählerischen Raum gibt. Oder, oder, oder.

Die scheinbar leichtfüßig daherkommenden Geschichten, die vom „wirklichen“ Anfang (dem Anfang am Anfang sozusagen), vom (neuen) Anfang nach dem Ende (hier im Jahre2800) und immer wieder vom Heute und Jetzt erzählen, sie rücken vor allem zwei Themen in den Mittelpunkt: den gern mit dem Begriff bzw. der Idee der „Schöpfung“ verbundenen Menschen und, davon nicht zu trennen, das Wort und mit ihm die Sprache. Letztere wird nicht nur in ihrer heutigen vokabularen Spannbreite (reichend von Alltagsphrasen, Vulgarismen, Comic-Sprachblasen bis hin zu angelsächsischen Einflechtungen) gezeigt. Sie wird auch, was einzelne Wörter und Phrasen anbelangt, unaufdringlich, aber stetig auf ihren Aussagegehalt hin abgeklopft. Nicht selten kommt es dabei zu amüsanten und zugleich nachdenklich stimmenden Überlegungen, die wiederum auch vor eingefahrenen nationalen Klischees nicht haltmachen.

Widmers Geschichten vom Reden, die nicht zuletzt auch deshalb Geschichten v o m Hinhören und z u m Zuhören sind, fordern denn auch ausgerechnet diese in ihrer Existenz bezweifelte Eigenschaft an mehreren Stellen mit Vehemenz ein. Dies hat indes weniger damit zu tun, daß er wie jeder Angehörige seiner Zunft ein Publikum mit Ohren braucht. Wichtiger scheint vielmehr, daß er wie nicht wenige seiner helvetischen Berufsgenossen nahezu gleichen Alters so etwas ist wie ein Warner, ein Mahner, ein moderner Aufklärer. In Zeiten, in denen es scheint, als sei der Verstand abhanden gekommen, geht Widmer mit unerbittlicher Leichtigkeit und sich leicht gebender Unerbittlichkeit hart ins Gericht mit einer menschlichen Gedankenlosigkeit, die bereits das Gestern (den Anfang, das Paradies, das Schöne) in das Heute (den Lärm, Verkehr, Müll, Krieg u. a. m.) gelenkt hat und die nun „blind! ratlos! einsam! verloren!“ „in kollektiver Weisheit“ geradewegs auf das Morgen (das Ende) hinsteuert.

Und trotzdem schreibt hier nicht einer, der die Welt und ihre Menschen satt hat. Im Gegenteil. Hier schreibt einer, dem „die Schöpfung“ viel wert ist und der sich ebendeshalb - als Teil ihrer selbst - einmal mehr wundert über ihr Taubsein, ihr Blindsein, ihr Einsam-sein oder, wie er es nennt, ihr „Erfrorensein“. Daß sich Urs Widmer mit alledem (auch) in der besten Tradition schweizerischer Gegenwartsliteratur der sogenannten „zweiten Generation“ befindet, sei zum Ärgernis aller derer erwähnt, die - aus Vereinnahmungsgründen - behaupten, es gäbe sie nicht, die (deutschsprachige) Schweizer Literatur. Es sei aber auch all denen noch ans Herz gelegt, die befürchten, die Bezeichnung „Schweizer Literatur“ bedeute Einschränkung, ja gar Ausgrenzung. Weit gefehlt! Mit seinen geistvollen, herzlich-heiteren, nachdenklich-unterhaltenden Geschichten zeigt Urs Widmer einmal mehr, daß das Etikett „deutschsprachige Literatur made in Switzerland“ ein Markenzeichen und als solches ein Qualitätssiegel ist.

Bleibt neben möglichst vielen Lesern für dieses Büchlein eigentlich vor allem eines zu hoffen: daß wir Menschen, die wir auch in Widmers Geschichten „leben“, in unserer großen Welt mit all ihren (zumeist von uns selbst produzierten) Turbulenzen und vor allem in unserer eigenen kleinen, oftmals nur noch uns selbst umschließenden Welt das „Geheimnis der Greise vom Kaukasus“ beherzigen und g e r n e leben. Lebensfreude und Lebenslust als der Wunsch eines jeden nämlich würde nicht nur für den einzelnen das Leben lebenswerter machen, es würde auch - sozusagen als Dominoeffekt - die Schöpfung insgesamt diesem utopisch scheinenden und in Widmers Geschichten mitschwingenden „Ziel“ näherbringen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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