Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Platon, der Überbär und viel Honig

John Tyerman Williams: Jenseits von Pu und Böse
Der Bär von enormem Verstand und die Philosophie.

Illustrationen von Ernest H. Shepard.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1996, 238 S.

 

Hier sollte der Leser, der dieses Buch erwarb oder geschenkt bekam, zuerst den Schutzumschlag eingehend betrachten. Der Titel ist sofort verständlich, der Bezug zu Nietzsche fast eindeutig, bis auf das Pu, was aber fast so klingt wie gut. Der Untertitel kündigt einen Bären an von „enormem Verstand“, dazu wird Philosophie versprochen. Das ist auch nicht zu übersehen; Platos Kopf auf einem Sockel, gegenüber der Bär. Die Vorderbeine wie Arme auf dem Rücken verschränkt, scheint er den Altgriechen etwas zu fragen. Philosophiehistoriker könnten hinter der Gestalt des Bären, noch dazu eines gewöhnlicher Teddybären, Xenophon vermuten. Der begegnete einmal in einer engen Gasse dem Sokrates, wurde nach vielem befragt, vor allem danach, wo Menschen zu ausgereiften Persönlichkeiten gebildet werden könnten. Doch Xenophon wußte keinen Bescheid zu geben. Da rief Sokrates: „So komm, folge mir und lerne es!“ Schöne Bescherung, noch vor der Lektüre dieses Buches kann der Leser verwirrt werden. Alles durcheinander hier? Aber das ist genau der einzige, der richtige Einstieg in dieses eigenwillig-kauzige Buch. Hier ist um eines Spaßes willen alles bunt durcheinandergeraten, der Bär Pu schlägt Purzelbäume. Für Kinder unbrauchbar, ein Bär auf philosophischen Abwegen. Für Philosophen aber auch zu unernst, weil zu spontan und kurzatmig. Braucht Philosophie doch einfach mehr Luft, Ruhe, Balance vor allem.

Diesem Autor ist Pu, sein Bär, der dem Leser aufgebunden werden soll, wichtiger als abwägende Philosophie. Zwar setzt er bei Platon an, doch nur, weil dem Leser von der ersten Seite an empfohlen wird, Platon durch „Pu der Bär“ zu ersetzen. Alle abendländische Philosophie führt in diesem Buch zu Pu. Hu? Nein, nicht gleich verzagen, aber nicht vergessen, das Buch ist von einem Engländer geschrieben, und englischer Humor ist sich manchmal selbst ein Rätsel.

Auf den ersten Seiten wird der Leser, unsicher und neugierig zugleich, mit hochtrabenden Bemerkungen auf die Lektüre eingestimmt. Da ist Pu „selbst“ in seinen Texten „zwar die bedeutendste Verkörperung philosophischer Inhalte, aber eben nicht die einzige“. Denn da sind noch ein paar andere wichtige Figuren aus der Tierwelt anwesend, damit es nicht gar zu tierisch ernst werden soll. Der Esel repräsentiert „die Schule der Stoiker, und - viele Leser mögen jetzt überrascht sein - er ist der Schlüssel zu einem ganzen Teil von Nietzsches Also sprach Zarathustra. Ferkel steckt voller Verweise auf die Ethik. Eule ist, unter anderem, eine erfrischende Satire auf die Art von akademischer Philosophie, die sich in ihrer Abwendung vom Alltagsleben gefällt.“ Man erkennt die leichte Hand (die lockere Tatze) des Bären, der hier den Brummton angibt.

Dessen Heimlichtuerei enthüllt ja auf den ersten Blick, daß hier nicht allein „um materiellen Honig“ gestritten wird. Und da Honig weit älter ist als alle Philosophie, wird der süße Rat der Einsicht nahegelegt, daß Honig ohnehin ein bedeutsames Symbol darstelle.

Also macht sich der Leser auf den süßen Weg. Mit Pu im Ballon, mit Pu Fragen hörend, die aber selten beantwortet werden. Nicht nötig, solange noch der Honig fließt und die zuckrige Blödelei überhaupt nicht zur Ruhe kommen will. Spannend ist das, besonders wenn der Esel I-Ah polternd mit Theorien von der Welt-Harmonie spielt, den richtigen Moment abzuwarten versteht, um von der falschen zur wahren Vorstellung zu gelangen. Wenn pausenlos vom Honig die Rede ist, muß auch die Frage nach dem richtigen Topf geklärt werden. Das interessiert nicht nur Imker. Und um zu ermessen, was unter einem nützlichen Topf verstanden werden muß, führt Williams auf Seite 34 den Illustrator ins Feld: „Er zeigt uns einen grob zylindrischen Topf, der in der Höhe größer ist als im Durchmesser. Welche kosmologische Theorie drängt sich da auf?“

Bevor der Leser dieser Frage weitere Aufmerksamkeit schenkt, betrachtet er erst einmal genüßlich auf Seite 35 unten den Topf und den Esel, nein, es ist ja wohl doch der Bär. Grob zylindrisch, sehr treffend, aber mehr grob als zylindrisch.

Überhaupt sind die Illustrationen immer wieder eine köstliche Labspeise für den zwischendurch honigmüden Leser, der seinen Hängekopf auch nicht immer in den Honigtopf stecken mag. Das wird auf die Dauer doch zu süß und zu klebrig. Der Illustrator führt gekonnt in Kindertage, in weichmollige Teddystunden, zu Rauch und Zauber in Bär- und Hasenstimmung. Was auf den ersten Blick der Text nicht zu leisten vermag, der Illustrator, hier hat der Autor ja so sehr recht, macht es möglich. Ohne Worte wird erklärt, was von Platon über Spinoza, Aristoteles und Leibniz bis hin zu Nietzsche und Heidegger und wieder zurück zu Hegel oder zu den Stoikern, dann aber zielstrebig zu Camus und somit zum Stein des Sysiphos alles vom brummenden Honig-Bären in Gang gesetzt werden kann. Hier herrscht philosophische Honigstimmung. In jeden Denker summt und brummt sich Pu hinein. Stört ihn mal eine Zeile beim Philosophen, dann ändert er sie. Er ist beweglich, macht das Unverständlichste verständlich. So entsteht die neue, die Pu-Philosophie. Sie geht ganz einfach, verwechselt nie Konkreta und Abstrakta; denn der Bär summt immer die richtige Melodie. Die geht so: „Und der einzige Grund dafür, eine Biene zu sein, den ich kenne, ist, Honig zu machen ... Und der einzige Grund, Honig zu machen, ist, damit ich ihn essen kann.“

Der Bär trottet durch die Philosophiegeschichte. Er ist nicht zu bremsen, trotz knietiefer Honigspuren. Sein Lieblingsschüler, jeder Philosoph hat einen Lieblingsschüler, ist Ferkel, „trotz all seiner intellektuellen Defizite“. Mit ihm ferkelt er die Wortleitern hoch und wieder runter, und der Autor weiß es, sagt es: Es geht ihm hierbei weniger um die Philosophie, noch weniger um die Philosophen selbst, sondern um den Bärendienst, den die Ausleger der Philosophie, die Deuter und Verdreher dieser seit langem überall erwiesen haben.

Pu, großer Bär, Brummbär, Honig-Bär, noch viel mehr: „In Anlehnung an Nietzsche könnte man sagen, er ist eindeutig der Überbär.“ Mit Heidegger behandelt er weitschweifig das Sein der Honigtöpfe, mit Kant wird noch einmal der Symbolgehalt des Honigs durchgespielt: „Diejenigen Leser, die sich zudem an den Symbolgehalt von Honig erinnern (Weisheit, Wahrheit, Güte), werden jedoch bewundernd - aber wohl kaum erstaunt - feststellen, daß Pu der Bär die Begrenztheit der Phänomene gerade im Akt ihrer Veranschau-lichung transzendiert und daß er somit sogar noch den Transzendentalphilosophen Kant transzendiert.“

John Tyerman Williams hat schon als Vierzehnjähriger mit seiner ersten Filmrolle Karriere gemacht. Der Klappentext verrät nicht, ob er den Bär Pu gespielt hat. Aber es scheint doch sehr, sehr wahrscheinlich. Heute lehrt er Theaterwissenschaft und englische Literatur. Womit sein Buch schließt? Mit einem Regieeinfall für alle Leser: „Man muß Kaninchen nur Zeit lassen, dann kommt es immer auf die richtige Antwort. Und was Kaninchen kann, das können wir auch.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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