Eine Rezension von Karl Friedrich


Einzelheiten vom Maestro

Wolfgang Stresemann: „Ein seltsamer Mann ...“
Erinnerungen an Herbert von Karajan.

Ullstein Taschenbuch, Berlin 1998, 253 S.

 

Der Autor dieser Erinnerungen an den Dirigenten Herbert von Karajan gilt als profunder Kenner. Er weiß, wovon er schreibt, denn er hat seine Erfahrungen selbst gemacht. Wolfgang Stresemann, 1904 in Dresden als Sohn des früheren deutschen Außenministers Gustav Stresemann geboren, studierte Rechtswissenschaft und Musik. Schon in den zwanziger Jahren trat er als Dirigent hervor. Während der Emigration wirkte er als Dirigent und Musikkritiker in den USA. In den fünfziger Jahren wurde er Intendant des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin, und von 1958 bis 1978 war Stresemann Intendant des Berliner Philharmonischen Orchesters. Während dieser Jahre machte er sich einen Namen als Meister in der Gestaltung attraktiver Konzert-Programme. Zugleich waren es Jahre, in denen er Karajan kennenlernte, ihn aus nächster Nähe erlebte. Das Berliner Philharmonische Orchester existiert seit weit mehr als hundert Jahren. Vier Dirigenten - von Bülow, Nikisch, Furtwängler und Karajan - haben dieses Orchester geprägt und ihm Weltruhm verschafft, der trotz mancher Querelen (damals und heute) anhält. An den Anfang seiner Erinnerungen setzt Stresemann ein Eingeständnis: „In der Tat: Karajan, als Mensch und Musiker ungewöhnlich, eigenartig, selten, wenn nicht einmalig, hat wohl allen Rätsel aufgegeben, die mich (und andere) beschäftigten und nach wie vor beschäftigen.“ Der „Maestro“, wie er durchweg genannt wird, war eine dämonische Erscheinung. Der Dirigent gilt seit langem als eine Art Magier, denn mit seinem Stöckchen verwandelt er Noten zu Musik, verzaubert Hörer und Hörerinnen. Und da sich gerade Musik in ihrer Wirkung nie ganz nüchtern erleben läßt, ist der Dirigent allemal ein Zauberer. Stresemann spricht Karajan „die Gabe einer charismatischen Persönlichkeit“ zu, die Fähigkeit zum „Alleinherrscher“, die geradezu notwendig erscheint, „eine unbeschränkte Diktatur erlaubt, sogar erfordert“. Das betraf zuerst die Musiker. Der Intendant hatte andere Probleme. Während sich das Orchester förmlich für seinen Maestro „zerriß“, hatte Stresemann Sorgen, wenn bei Auslandsgastspielen Karajan plötzlich eine größere Streicherbesetzung anforderte oder an eine Schallplattenproduktion dachte. In dem Intendanten Stresemann stritten so Kunst und Ökonomie. Karajan setzte sich für ein Grundgehalt aller Musiker ein, damals, in den frühen siebziger Jahren, ein Novum. Politikern im damaligen West-Berlin gefielen die hochgesetzten Forderungen Karajans nicht immer. Da hatte der Intendant Stresemann zu vermitteln. Oft war es schwierig, aber es gelang zumeist. Denn Stresemann behielt bei allen „Ärgerlichkeiten“ die „große Leistung im Auge“. 1978 fuhren Karajan und das Orchester nach Dresden. Daß den Begleitern der staatlichen Konzertagentur nach dem Konzert Geschenke aus dem Intershop „überreicht bzw. zugesteckt wurden“, ist für Stresemann längst „Schnee von gestern“. Nach vierunddreißigjähriger Verbindung kam es 1989 zum plötzlichen Ende der Zusammenarbeit zwischen den Berliner Philharmonikern und Herbert von Karajan. Wie so oft lag auch hier ein Mißverständnis vor. Stresemann nennt Einzelheiten dieses Vorgangs, bei dem sich nicht alles erklären und aufklären läßt. „Was bleibt von Karajan?“ fragt der Autor. Vielleicht die Idee des Dirigenten, „Musik für Millionen“ verwirklicht zu haben. Aber auch die vielen Aufnahmen, heute jederzeit erreichbar. Dem „hervorragenden Regenten“ unter den Dirigenten ist ein Platz in der Musikgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts sicher, obwohl er „ein menschenscheuer, im tiefsten Inneren verschlossener, den Seinen entfliehender Maestro“ war. Ein seltsamer, ein großer Mann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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