Eine Rezension von Bertram G. Bock


Wenn Selbstverständlichkeit überhand nimmt

Arne Roß: Frau Arlette
Roman.

DuMont Buchverlag, Köln 1999, 174 S.

 

Das Buch handelt nicht von einem strahlenden Helden oder einem nicht ganz so strahlenden Anti-Helden, sondern von einer blinden, alten Frau. Blindheit als Behinderung wird hier nicht tränendrüsig thematisiert, sondern als Gegebenheit genommen. Es wird nicht lautstark geklagt: Seht her, wie schwer es ist, blind zu sein. Die Hauptfigur ist eine Person, die zwar den einen oder anderen Spleen hat - drei Unterhosen zieht sie sich an und trinkt den Kaffee vor dem Mittagessen -, aber ansonsten kommt sie als das daher, was sie ist: als eine alte Frau mit ihrer Geschichte, ihren Überzeugungen und ihren Wünschen. Arne Roß zeichnet Frau Arlette, wie sie heißt, sehr menschlich, und würde sie nicht in ihrem Haus an einem holsteinischen See leben, es könnte auch die alte Frau von nebenan sein, die man so oft am Fenster sieht. Man kann Roß also keine Weltfremdheit vorwerfen, man kann auch nicht behaupten, er konstruiert da etwas zusammen, Hauptsache, es klingt spannend. Der Vorwurf ist auch dann nicht zu machen, als Werner in das Leben von Arlette tritt. Der taucht gleich am Anfang des Romans auf und ist jemand, der sich um das Anwesen kümmern soll, der all das tun soll, was eine alte und blinde Frau lieber den Händen eines Mannes überläßt. Es entwickelt sich - auch das ganz unspektakulär - eine Beziehung zwischen den beiden. Daß sie schließlich im Bett landen, mag den einen oder anderen vielleicht verwundern, doch während der Lektüre verwundert es niemand. Roß dreht das gängige Modell - älterer Herr, junge Frau - um; keine literarische Sensation, und es ist auch nicht zu befürchten, daß es irgendwelche Moralinstanzen auf den Plan ruft.

So also die Grundkonstellation einer weiteren Liebesgeschichte auf dem Büchermarkt, die nicht tragisch endet, aber für ein Happy-End, sprich eine Hochzeit - man ahnt es schon -, reicht’s natürlich nicht, wofür der Autor keineswegs zu kritisieren ist. Das Grundgerüst wirkt durchdacht und handwerklich gut gemacht, hält auch die ganzen 174 Seiten durch. Bei einem Erstling ist das schon hervorhebenswert. Und die Geschichten, Erinnerungen, Erlebnisse und Empfindungen von Arlette sind einfühlsam beschrieben, haben Realitätsbezug, zeugen von einer sensiblen Auseinandersetzung mit dem Leben einer blinden, alten Frau. Das ist alles stimmig, da kann man nichts Falsches entdecken, da kennt man das eine oder andere aus wirklichen Erzählungen alter Leute, aber spannend ist das nicht, es langweilt sogar mit der Zeit.

Das Geschehen plätschert liebenswürdig dahin, auch die Annäherung des ungleichen Paares, da will kein Sog aufkommen, kein Wind, nicht einmal ein Lüftchen. Zwar werden Gefühle, Emotionen ausgelotet, aber auch bei aller Offenheit für seelische Befindlichkeiten, sie erreichen den Leser nicht wirklich. So selbstverständlich, wie Roß eine bekannte Figurenkonstellation einfach mal umgedreht hat, so selbstverständlich wird die Situation vom Leser akzeptiert. Roß hat nichts unternommen, um für etwas mehr Reibung und Spannung zu sorgen. Die Selbstverständlichkeit der Beziehung von Arlette und Werner wird nicht in Frage gestellt, nicht angetastet. Roß setzt ihr nichts entgegen, läßt sie sozusagen ungehindert gewähren und gestattet ihr dadurch, uninteressant zu wirken, daß man versucht ist, den Roman aus der Hand zu legen.

Dabei hat sich Roß erzähltechnisch etwas durchaus Interessantes einfallen lassen. Werner ist zwar der Erzähler, aber letztendlich ist er nur eine Art Erzählinstanz und Sprachrohr für Frau Arlette. Er erzählt dem Leser, was sie erzählt, was sie macht, wie sie wirkt, hält sich aber mit eigenen Anmerkungen, mit eigenen Gedanken weitgehend zurück. Während Frau Arlette stets präsent ist, ist Werner nahezu unsichtbar. Der Leser „sieht“ die alte Dame, den Mann hingegen sieht er nicht, er ist, was Werner betrifft, blind wie Frau Arlette. Das ist durchaus eine interessante Sichtweise, gewöhnungsbedürftig zwar zu Beginn, aber sie fordert ein „aktives“ Lesen. Der Leser muß selbst sein Bild von Werner zusammensetzen, er muß selbst die Räumlichkeiten, das Umfeld ertasten. Leicht wird es ihm nicht gemacht, denn innerhalb der einzelnen Abschnitte wechseln wörtliche Rede, Reflexion, Wetterbeschreibung, ein kurzer Dialog übergangslos. Das ist gekonnt gemacht und konsequent durchgehalten. Von einem Debüt nicht unbedingt zu erwarten. Der relativ anspruchsvolle Stil, die interessante Idee und nicht alltägliche Figurenkonstellation können die inhaltlichen Defizite jedoch nicht ausgleichen.

Arne Roß zeigt sich mit Frau Arlette als ein guter Handwerker - was ja einiges wert ist -, dem es aber leider noch an erzählerischem Esprit fehlt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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