Eine Rezension von Christel Berger


Ein Meister aus der zweiten Reihe

Helmut Richter: Wiedersehn nach Jahr und Tag

Faber & Faber, Leipzig 1998, 208 S.

 

Das ist ein rundum schönes Buch, das Verlag und Autor anläßlich des 65. Geburtstags Helmut Richters den Lesern bieten. Der Titel ist Programm: Ein Werk wird „nach Jahr und Tag“ vorgeführt, und es besteht und mehr noch: beeindruckt. Acht Etappen/Stationen - „Vor.Satz“, „Ankunft im Alltag“, „Abschied von einer Illusion“, „Besinnung und Umschau“ usw. - beschreiben das Werk und berühren das Leben des Autors, enthalten jeweils Prosa und Lyrik. Acht Reproduktionen nach Rötelzeichnungen von Frank Ruddigkeit ergänzen/verfeinern das Ganze.

Wer mit dem Namen von Helmut Richter in der DDR nichts zu verbinden wußte, kannte zumindest sein „Über sieben Brücken mußt du gehen“ oder Fernsehfilme aus seiner Feder. Wer sich für Lyrik interessierte, wußte Richter als feinsinnig, nachdenklich, wesentlich, oft streng in der Form und der Tradition eines Georg Maurer verpflichtet zu schätzen. Seine Szenarien und Fernsehspiele verrieten den Profi. Studenten am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ schätzten ihn als guten Lehrer. In den Wendewirren war er der Direktor dieser Einrichtung. Dennoch stand er nie in der allerersten Reihe der DDR-Autoren, und da es mittlerweile selbst um die und deren Werk aus den Jahren vor 1989 recht still geworden ist, war mit einer Publikation von Arbeiten Helmut Richters kaum mehr zu rechnen.

Faber & Faber schreibt sich das Verdienst zu und leistet so einen Anteil an der Neu- oder Wiederentdeckung eines Autors, der etwas zu sagen hatte und hat und dazu seine künstlerischen Mittel beherrscht. Offenbar geschah eine strenge Auswahl aus dem Schaffen, und das hat sich gelohnt. Es sind Gedichte und Erzählungen eines Meisters. Sowohl Erzählvermögen und Gedankentiefe, Bildhaftigkeit und Formvermögen zeugen von schöner Professionalität und Kreativität. Helmut Richter kann zu seinen früheren Texten stehen, auch wenn er einiges davon heute als von einer Illusion gezeichnet bewertet. Der Kommentar am Ende des Buches beschreibt äußerst knapp, welche Bewandtnis es mit dem jeweiligen Text zur Entstehungs- oder Erscheinungszeit hatte, was die Arbeit für den Autor bedeutete. Schade, daß genaue Jahreszahlen fehlen bzw. selten sind.

Das Buch beginnt mit dem Sonett „Antigone 1963“, das Richter einen „selbstquälerischen Reflex“ auf die Lyrik-Diskussion Anfang der 60er Jahre nennt. Damals war sein kleines Gedicht „Über das Träumen“ als „Produkt ... einer verfaulenden Gesellschaftsordnung“ gerügt worden. Richters Antigone verläßt der Mut, den Bruder zu begraben, weil sie sich dann isoliert von den anderen weiß. Aber als sie nicht handelt,

„... schlugen alle ihre Augen nieder
Als sei etwas Schreckliches geschehn.“

Richter hat die Schizophrenie einer solchen Situation, an die sich ehemals kritische, aber disziplinierte Genossen aus DDR-Zeiten noch heute - nicht ohne Gewissensbisse - sehr gut erinnern können, „klassisch“ - kein Wort zuviel, konsequent nach den strengen Gesetzen des Sonetts - beschrieben. Wenn man es heute liest, möchte man wieder die Augen niederschlagen.

Die „Ankunft im Alltag“ bestimmt in der Hauptsache die Erzählung „Der Schlüssel zur Welt“. Es ist die Geschichte einer versuchten Republikflucht mit freiwilliger Umkehr, in der die vielen Argumente gegen und für dieses Land dem Mann Bragulla zugeschrieben werden, der dank des Könnens seines Autors zwar ein besonderer ist, aber doch auch einer, der fühlte, dachte und tat, was viele irgendwie und ziemlich heftig bewegte.

Außer der Repräsentation des Œuvres sollte mit den acht Stationen sowohl die Entwicklung als auch die dominierenden Themen und Stoffe präsentiert werden. „Natura naturans, natura naturata“ ist ein Abschnitt betitelt, der böse Einsichten über den heutigen Umgang mit der Natur, geronnen in Lyrik und Prosa, zum Inhalt hat. Die Erzählung „Das Auge der Schlange“ war für mich ein besonderes Erlebnis: Das ist in keiner Weise ein vordergründiger oder gar kommentierender Naturschützer-Text, sondern eine verrätselte, spannende und hintergründige Geschichte, in der dennoch alles von den Ängsten, Sorgen und der Arroganz unserer Zeit und Zeitgenossen drin ist. Oscar Wilde hätte an diesem Stück seines Kollegen seine Freude gehabt!

Der vorletzte Komplex, der das Angekommensein einer (seiner) Familie im vereinten Deutschland schildert, atmet Abgeklärtheit und Hoffnung dank des Bündnisses zwischen Großvater und Enkel.

Ein Schriftsteller, der sein Handwerk lehrte und es selbst zu handhaben wußte!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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