Eine Rezension von Helmut Hirsch


Gefühle und Gedanken von Dichterinnen

Frauen dichten anders
181 Gedichte mit Interpretationen.

Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki.

Insel Verlag, Frankfurt/M. 1998, 859 S.

 

Seit vielen Jahren gibt es in der Wochenendausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen schönen Brauch. In der Rubrik „Frankfurter Anthologie“ wird regelmäßig ein Gedicht abgedruckt, und daneben steht eine Interpretation dazu. Man kann diese Seiten sammeln, man kann aber auch in regelmäßigen Abständen ein Buch, nämlich die „Frankfurter Anthologie“, kaufen, wo diese Gedichte und Interpretationen versammelt sind. Unter Lesern von Lyrik, auch solchen, die sonst eher Gedichtbände umgehen, ist diese Einrichtung inzwischen sehr beliebt geworden. Und da es die Natur der Dinge so will, erscheinen Dichter und Dichterinnen, Frauen und Männer unter dem Dach dieser von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen „Frankfurter Anthologie“. Derselbe ist nun auch der Beförderer eines großen Bandes unter dem Titel Frauen dichten anders. Im Vorwort zu diesem Buch erörtert der Herausgeber die Frage, ob sich Literatur, die aus der Feder von Männern stammt, von der unterscheidet, die Frauen geschrieben haben. Marcel Reich-Ranicki, kein feministischer Eiferer, bringt es schnell auf den Punkt. Er sagt: „Frauen empfinden, erleben und erleiden die Welt anders als Männer“, und damit ist eigentlich schon fast alles gesagt. Folglich müssen Frauen auch anders lesen und anders schreiben. Und in der Lyrik trete dieses Phänomen am deutlichsten hervor. Daß Frauen so spät erst zur Literatur kamen, hat eine uralte Quelle. Im ersten Brief des Paulus wird die Frau als des Mannes Abglanz genannt. Das hat Geschichte gemacht. Inzwischen ist alles anders. Frauen schreiben und dichten, oft mehr und auch besser als Männer. Waren im 19. Jahrhundert dichtende Frauen noch die Ausnahme, Bettina von Arnim zum Beispiel, die allerdings in dieser Anthologie nicht vorkommt, so tritt mit Annette von Droste-Hülshoff die vielleicht erste „wunderbare Dichterin“ (Reich-Ranicki) hervor. Mit ihr setzt auch die Vielfalt ein, die der Herausgeber vor allem im Sinn hatte.

Dennoch, es bleibt eine Auswahl, und es sind „nur“ 54 Dichterinnen mit 181 Gedichten abgedruckt. Das wäre eigentlich nur ein Büchelchen geworden, wenn nicht die beigefügten Interpretationen wären. Sie machen das Buch umfangreich, übersteigen das Quantum der Gedichte erheblich, setzen freilich viele Nuancen und Bilder ins Licht, deuten vorsichtig oder keck, teilen Biographisches mit, und das ist besonders dann von Gewinn, wenn der Interpret die Dichterin persönlich kennt. Die Mehrzahl der Interpretationen, auch das gehört zur Geschichte der dichtenden Geschlechter, ist von Männern geschrieben worden. Und auch dies wäre erkundenswert: der Unterschied zwischen männlicher oder weiblicher Interpretation. Aber man sieht es sogleich, das sind unendlich bizarre und verschlungene Wege, auf denen man sich leicht verlaufen kann. Der Leser liest immer anders, das weiß der Herausgeber aus eigener Erfahrung. Ganz treffend schreibt er über Gedichte, daß „auch die Gefühle und die Gedanken, die es ausgelöst hat und die es auslöst“, dazugehören.

Einmal wird ein Gedicht, nämlich „Ein Gedicht“ von Marie Luise Kaschnitz, zweimal (beides Männer) interpretiert. Es ist ein Gedicht über das Dichten, eins von den wenigen, die es dazu überhaupt gibt. Die Kaschnitz fragt darin, woher die Worte kommen, aus denen das Gedicht gemacht ist. Alles „Was mir zufällt, nehm ich“, und es entsteht die ganze Welt der Dichterin: „Zeile für Zeile, / Meine eigene Wüste / Zeile für Zeile / Mein Paradies“.

Was für Dichter gilt, gilt auch für Interpreten. Wo Ratlosigkeit überwiegt, die Einsicht in das Fragmentarische menschlichen Tuns im Gedicht probiert wird, wird selten eine Lösung gefunden, doch immerzu „Unlösbares ins Licht“ gerückt, wie Walter Helmut Fritz einmal schreibt. Die schwerwiegenden Themen unseres Jahrhunderts, die massive Gewalt gegenüber vielen Menschen, die anders waren, nimmt in diesem Buch breiten Raum ein. Nelly Sachs und Gertrud Kolmar läßt der Holocaust nicht los, auch Rose Ausländer hat das Ungeheuerliche in ihrem Gedicht zur Sprache gebracht.

Horst Bienek interpretiert ein Liebes-Gedicht von Sarah Kirsch („Die Luft riecht schon nach Schnee“), es ist schon ein Gedicht des Abschieds. Und hier fällt die zutreffende Bemerkung: „Wahrhaftige Gedichte der Liebe werden kaum noch verfaßt - und schon gar nicht von Männern.“

Ist das vielleicht ein gravierender Unterschied zwischen Dichtern und Dichterinnen? Alles bleibt offen, solange noch geschrieben, solange noch gelesen wird.

Und lesen läßt sich in dieser Anthologie wunderbar. In den Liebesgedichten lauert der Abschied, droht der Tod. Das war schon bei Karoline von Günderrode (1780-1806) so, das durchzieht die Gedichte von Ingeborg Bachmann. Auch Seltenes ist zu lesen. Drei Gedichte von Hertha Kräftner, die sich mit 23 Jahren das Leben nahm, weil sie „dem Sturz aus der Illusion, dem ersten Schlag ins Gesicht, nicht gewachsen war“, wie Kurt Klinger, der die Dichterin gekannt hat, in seiner Interpretation mitteilt.

Dichten Frauen anders? Beantwortet wird diese Frage von den Gedichten selbst. Und das bedarf gar keiner nachhaltigen Interpretation. Hilde Domin beginnt ihr Gedicht „Bitte“ so: „Wir werden eingetaucht / und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen. / Wir werden durchnäßt / bis auf die Herzhaut.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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