Eine Rezension von Sven Sagé


Verführung zum Verderben

Naeem Murr: Es nähme einer mich plötzlich ans Herz
Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein.

Luchterhand Literaturverlag, München 1999, 236 S.

 

Diesen Roman muß man - sitzend, liegend? - durchstehen! So oder so! Zum Schluß hin bleibt einem fast die Spucke weg. Es kommt schlimmer als schlimm. Darauf hätte man gefaßt sein müssen. Ist es, dann, aber doch nicht. Naeem Murr, 1965 in London geboren, erzählt keine beliebige Vater-Sohn-Story. Erzählt er überhaupt eine Vater-Sohn-Geschichte? Bis zum letzten Punkt des Romans Es nähme einer mich plötzlich ans Herz ist das nicht zweifelsfrei auszumachen. Sean, der vermeintliche Vater des Jungen, dessen Namen so häufig wechseln wie seine Lebensumstände, eignet sich auch nicht als Hintergrundfigur für den klassischen Generationskonflikt. Murr erfüllt keine der üblichen Erwartungen. Selbst das Thema „Kindesmißbrauch“ mißbraucht er nicht für seinen Roman. Was immer mit Generationskonflikt oder Kindesmißbrauch in dem Buch zu tun hat, hat mit dem Hauptthema Verführung zu tun. Mit den Verlockungen und Versuchungen, die dem Leben die Liebe austreiben und zum Tode hinführen.

Der Junge, das Kind einer Prostituierten, sieht aus wie ein Engel und ist in Wahrheit der Leibhaftige. Ein „erklärter Liebling“ und „in den Himmel gehoben“, ist das Pflegekind ein kluger, charmanter Täuscher. Der Junge ist eine männliche Sirene, die in den Tod lockt und ihn bringt. Frieden findet der Kind-Knabe nur bei den Männern, „die mich vögeln“, wie er sagt. Bei denen, die nicht lügen, die keine Liebe heucheln wie Pflegeeltern, Heimerzieher, Sozialarbeiter. Einschließlich Sean, der auf der Suche nach seinem Sohn ist. Vielleicht steckt der Teufel in der Lüge von der Liebe, die nicht nur das Leben des Jungen verdirbt. Szene um Szene reihen sich in dem Roman die Verlockungen und Versuchungen des Liebens, die ins Verderben führen.

Sich von den oft gebrauchten Worten Herz und Liebe hinreißen und einlullen zu lassen heißt, vom Autor auf die Leimrute gelockt zu sein, die im Sumpf der Gefühle endet. Murr stillt keine Sehnsüchte der Herz-Liebes-Welt. In seinem mehrsträngigen Roman summiert der Erzähler in schnell wechselnden Episoden die Störungen, die Herz-Liebes-Sehnsüchte wachsen lassen. Literarisch ist das famos, aufregend, verblüffend arrangiert. Derart famos, aufregend, verblüffend, daß man sich nicht des Eindrucks erwehren kann, der Autor habe den ganzen Kurs „Kreatives Schreiben“ abgearbeitet und für den Roman aufbereitet. Nicht immer kriegt der Schriftsteller die Kurve und hält genug Distanz zur Hauptfigur - „Heiliges Gesicht, diese Lippen, fast überfeinert, sinnlich und edel“. Nicht selten sind seine „wohlgesetzten Worte“ wohlig gesetzt wie bei Rosamunde Pilcher - „Lippen, so erlesen gezeichnet“. Die adjektive Süße der Schilderung straft die substantive Härte der Handlung Lügen. Die Substanz des Romans ist in den an sich ungewöhnlichen Figuren, in den an sich ungewöhnlichen Geschichten. Von den Worten Herz und Liebe nicht manipuliert, manipuliert Naeem Murr nicht mit den Worten. Das rettet den Roman vor der Trivialität, die manchmal in den Sätzen ist. Versehentlich - wie Herzlichkeit, wo das Herz aus Stein ist?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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