Eine Rezension von Ursula Reinhold


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Generationen und ihre Schicksale

 

Monika Maron: Pawels Briefe
Eine Familiengeschichte.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999, 204 S.

 

„Ich mußte aufgehört haben, meine Eltern zu bekämpfen, um mich über das Maß der eigenen Legitimationen hinaus für meine Großeltern und ihre Geschichte wirklich zu interessieren. Ich mußte bereit sein, den Fortgang der Geschichte, die Verbindung zu mir, das Leben meiner Mutter einfach nur verstehen zu wollen, als wäre es mein eigenes Leben gewesen.“ Mit diesen Worten erklärt die Autorin das auffällig späte Interesse am Lebensschicksal ihrer Familie und trifft damit Wesentliches. Die biographisch spät vollzogene Trennung vom Familieneinfluß prägte die literarische Identität von Monika Maron, deren vehementes Abgrenzungsbedürfnis für ihr Schreiben bestimmend wurde. In Stille Zeile6 war die aggressive Abwehr gegenüber dem zugreifenden Erziehungsanspruch eines allmächtigen sozialistischen Staates stellvertretend an der Auseinandersetzung mit den Lebenslügen eines alten Genossen abgehandelt worden. Auch in ihrem Roman Animal triste, zeitlich ein Nachwenderoman, erscheint die äffische Metaphorik einer um Liebe und Leben betrogenen Frau als Ergebnis eines im Sozialismus behinderten Lebens, dem freilich auch das kurze Liebesglück nach der Wende keine dauernden neuen Perspektiven zu geben vermochte. In dem vorliegenden Buch nun beschäftigt sich Monika Maron mit dem Familienschicksal und ihrem eigenen Verhältnis dazu. Es entstehen aus Überliefertem, Briefen, Fotos, Erinnerungen die Umrisse der Biographie dreier Generationen in einer assoziativen, sich zeitlich durchdringenden Erzählweise. Jonas Maron, der Sohn der Autorin, trägt mit der bildlichen Gestaltung des Buches dazu bei, daß der Leser eine sinnliche Vorstellung von den Menschen erhält, über die erzählt wird. Da sind einmal die Großeltern, die zu Beginn des Jahrhunderts aus der Gegend um Lodz nach Berlin kamen und in Neukölln eine bescheidene Schneiderexistenz fristeten. Der Großvater Pawel stammte aus einer jüdischen Familie, war zu den Baptisten konvertiert, wo er seine aus katholischer Familie stammende Josefa kennengelernt hatte. In den zwanziger Jahren wird er Kommunist, wie auch alle vier Kinder, die in den sozialen und politischen Kämpfen dieser Zeit heranwachsen. Die Mutter der Autorin ist die Hauptquelle der Überlieferung, sie hatte über Jahrzehnte die Briefe des Großvaters aufbewahrt, die der ab 1939 aus Polen geschrieben hatte, wohin er von den Nazis ausgewiesen worden war und wo er schließlich 1942 in einem Lager oder Ghetto umkam. Seine Spur verliert sich dort wie die vieler jüdischer Menschen. Seine Frau war ihm als Nichtjüdin nach Polen gefolgt, verweigerte die Scheidung, zu der die Nazi-Behörden sie überreden wollten, und starb, getrennt von ihm, gebrochen an Leib und Seele. Die Autorin thematisiert die Rekonstruktionsarbeit an diesem Leben, sucht nach Spuren der Vorfahren in den polnischen Orten heute und stößt auf Leere dort, wo einstmals jüdisches Leben war. Ihre Stütze für die versuchte Rekonstruktion sind, außer den wenigen überlieferten Dokumenten, die Erinnerungen von Hella, ihrer Mutter, dem letzten von vier Kindern Pawels und Josefas, das noch Auskunft geben kann. Natürlich erbringt die Spurensuche nur Bruchstücke eines Lebensschicksals, die Autorin füllt solche Leerstellen mit Mutmaßungen.

Bildet die Rekonstruktion des großelterlichen Schicksals die zentrale stoffliche Achse des Buches, so wird die gedankliche Achse durch die Spannung zwischen Mutter und Tochter bestimmt. Hella, die Mutter der 1941 geborenen Tochter, gibt Auskunft über ihr und ihrer Geschwister Leben in der kommunistischen Jugendbewegung der Weimarer Republik und über die Umstände ihres Lebens als Halbjüdin in Nazideutschland. Während die Eltern deportiert waren, wird für sie der Kampf um Arbeitserlaubnis eine notwendige Überlebensbedingung, die Aussicht, von Monikas Vater geheiratet zu werden zur Überlebenshoffnung. Dieser Walter war offensichtlich ein Mensch mit Zivilcourage, der ihr durch Heirat Schutz geben wollte. Dafür gibt es allerdings keine behördliche Genehmigung. Sechs Jahre Kriegseinsatz und die nachfolgende Gefangenschaft trennen Hella schließlich von diesem Mann. Sie gehört als Kommunistin mit zu den Pionieren der ersten Stunde, wird Sekretärin im Berliner Magistrat und schließlich die Ehefrau von Karl Maron, dem späteren Innenminister der DDR. Die Familie zieht von Neukölln nach Prenzlauer Berg um, Monika wächst mit den kommunistischen Glaubenssätzen ihrer Eltern auf, bis sie - spät erst- mit ihnen bricht. Das Verhältnis zu dieser Mutter ist durch tiefe Zwiespälte geprägt, durch das Unverständnis der Tochter über die Rolle der Mutter im Staatswesen DDR. „Hella, Martha, Lucie und ihre Genossen haben mir eine Frage hinterlassen, auf die ich bis jetzt keine Antwort gefunden habe.

Nichts in ihrem Leben vor diesem Mai 1945 - weder ihre Herkunft noch ihre Erziehung, weder ihr Sinn für Gerechtigkeit noch ihre Freiheitsliebe - kann mir erklären, warum sie für die nächsten Jahrzehnte zu denen gehörten, die ihre politischen Gegner in Gefängnisse sperrten. Christen drangsalierten, Bücher verboten, die ein ganzes Volk einmauerten und durch einen kolossalen Geheimdienst bespitzeln ließen. Was hatten Pawels Töchter Hella und Martha unter solchen Leuten zu suchen?“ Es geht also um mehr als um simple Mutter-Tochter-Differenzen, es geht um Verstehen und Bewerten von Geschichte. Aber auch mentale Unterschiede, in denen sich die Zeitläufte spiegeln, bekommen Gewicht, allerdings werden sie von der Autorin zu wenig mit den geschichtlichen Prägungen in Zusammenhang gebracht, sondern erscheinen als nicht hinterfragbare psychisch-mentale Besonderheiten. Die ums wirkliche Überleben kämpfende Mutter mußte alle ihre Energien mobilisieren, um dieses Überleben zu schaffen. Von daher ist es wenig erstaunlich, daß ihr Denken und Streben strikt auf die Zukunft gerichtet war, daß für Reflexion wenig Raum blieb. Ihr war als Halbjüdin der Zutritt mit ihrem Kleinkind in den Bombennächten zu den schützenden Kellern nur durch die Großmut der Hausbewohner möglich, sie verbarg die Angst um die Eltern vor sich selbst, konzentrierte alle Kräfte auf die Bewältigung der zehrenden Widrigkeiten des Kriegsalltags. Es ist dies eine Verhaltensweise, die für Nachkriegsdeutschland Ost wie West charakteristisch blieb. Auch nach dem Krieg lebte sie nach vorn, arbeitete für den Wiederaufbau. Das vor allem positive Erlebnisse bewahrende Erinnerungsvermögen scheint in dieser Hinsicht ein Motor solchen Überlebenswillens. Der Luxus einer auf Identitätsfindung gerichteten Selbstwahrnehmung war dieser Generation geschichtlich versagt. Das Buch ist vom Willen um Verständnis getragen. Aber weit geht die Fähigkeit der töchterlichen Annäherung nicht. Es scheint mir dabei weniger um menschliche Defizite als um solche im historischen Verständnis zu gehen. Denn es wird vom historischen Hintergrund der Nachkriegszeit, vom politischen Verhalten der verschiedenen politischen Kräfte in ihr zu wenig präsent, um die Generationserfahrung der Mutter verstehbar zu machen. Immerhin sucht die Tochter herauszufinden, „worin mein Mißtrauen sich von Hellas Mißtrauen unterscheidet oder ob es sich, obwohl es zwar nachweislich begründet ist, nicht auch einer Feindseligkeit hingibt, die Hellas Ressentiments nicht unähnlich ist“, und räumt dabei ein, daß die Fixierung auf einen Feind, egal ob es der „Klassenfeind“ oder der „eigene Staat“ ist, die eigenen Züge entstellt. Solche Beeinträchtigungen prägten nicht nur die Wahrnehmung einzelner, sondern bestimmten auch die wechselseitige Fixierung der beiden Staatsgebilde, die ihr Entstehen der Frontenbildung des Kalten Krieges verdankten. Vor allem das von Widersprüchen und Zerreißproben bebende Berlin war ein Musterbeispiel solcher hochgeputschter Feindseligkeit. Gegenwärtig ist es so, daß Sozialdemokraten, die damals eine Politik der Zusammenarbeit mit der SED praktizierten, wie z.B. der SPD-Bürgermeister Ostrowski, aus dem jetzt herrschenden Geschichts-verständnis ausgeklammert bleiben. Auch die „Rosinenbomber“ der Luftbrücke erscheinen als Friedensengel, während seinerzeit die kriegerische Konfrontation durchaus einkalkuliert wurde. Monika Maron sucht solche umfassende Annäherung nicht, sondern ihr Bild der Nachkriegsgeschichte erscheint allein auf die untergegangene DDR als Nonplusultra von Unterdrückung gerichtet und damit doch etwas sehr linear.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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