Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


Ein Kriminalpanorama

P. D. James: Was gut und böse ist

Roman.
Aus dem Englischen von Christa E. Seibicke.

Droemersche Verlagsanstalt, München 1999, 548 S.

 

A Certain Justice - Ein sicheres Recht. So lautet der englische Titel dieses vierzehnten Romans von Phyllis Dorothy James. Damit meint die große alte Dame der europäischen Kriminalliteratur den unerschütterlichen Grundsatz der Strafjustiz aller dem Humanismus verpflichteten Länder, im Zweifel müsse zugunsten des Angeklagten entschieden werden. Der Roman macht zugleich auf den Pferdefuß dieser Unschuldsvermutung aufmerksam. Ein unter schwerem Tatverdacht stehender Angeklagter muß vom Gericht freigesprochen werden, wenn ihm ein Verbrechen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, und zwar auch dann, wenn ein Verdacht bestehen bleibt. P. D. James zeigt an einem frei erfundenen, aber lebensecht gestalteten Fall die mögliche Konsequenz dieses Rechtsprinzips: Ein mangels eindeutiger Beweise freigesprochener Mörder begeht eine weitere Bluttat.

Die Autorin spitzt das Problem noch weiter zu. Sie schildert - auch dies durchaus lebensecht - die Alternative, die ein geschickter Verteidiger in einem Mordprozeß erreichen kann. Während ein weniger gerissener Anwalt den Schuldspruch seines Klienten hinnehmen muß, paukt der mit allen Wassern gewaschene Staranwalt einen Angeklagten heraus, der - wie sich später herausstellt - tatsächlich gemordet hat und dann als freier Mann erneut mordet. Das heißt, der Ausgang eines Strafprozesses wird nicht nur durch die prinzipiell notwendige Unschuldsvermutung beeinflußt, ein gewissermaßen objektives Moment, sondern auch und letztlich entscheidend durch das subjektive Können der Verteidigung. In diesem Fall ist es eine juristisch glänzende Anwältin mit zweifelhaften menschlichen Qualitäten, von kaltem Ehrgeiz getrieben. Diese Frau wird selbst zum Mordopfer, beinahe erscheint dies wie ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, nicht menschlicher, sondern himmlischer, was die Autorin natürlich nicht ausdrücklich sagt.

P. D. James skizziert den Kern der Sache in dem nachgelassenen Brief einer Frau, die ebenfalls zu den Getöteten gehört, die sich im Verlauf der Handlung ansammeln: „Ein Angeklagter - mag seine Schuld auch schon vor Eröffnung der Beweisaufnahme für jedermann ersichtlich sein ... - hat immer das Recht auf eine Verteidigung. Sein Anwalt muß nicht von seiner Unschuld überzeugt sein, er hat nur die Beweise gegen ihn zu überprüfen und, falls sich in der Indizienkette der Anklage eine Lücke findet, sie so weit auszubauen, daß der Mandant hindurchschlüpfen und sich in Sicherheit bringen kann... Miss Aldridge (die Anwältin des freigesprochenen Mörders, KHA) spielte ein lukratives Spiel nach ausgeklügelten Regeln, die ... dazu gemacht waren, ihren Gegnern eine Falle zu stellen, ein Spiel, das mitunter nur auf Kosten eines Menschenlebens zu gewinnen war.“

Dieser seitenlange erfundene Brief ist übrigens die einzige erkennbare Schwachstelle des Buches. Die Briefschreiberin wird nämlich als eine Frau aus relativ einfachen Verhältnissen dargestellt, äußert sich jedoch wie eine studierte Juristin. Hier hat sich P. D. James eines legitimen literarischen Kunstgriffs bedient, um ihre Ansicht darzulegen, aber in der Wahl der ausführenden Person danebengegriffen.

Wenn also der Anwalt so geschickt ist wie jene Miss Aldridge, geht ein Mörder frei aus und „darf“ weitere Verbrechen begehen. Die Autorin läßt eine andere handelnde Person dieses Fazit ziehen und daran die Frage knüpfen: „Ein komisches System, nicht?“ Damit meldet P.D. James gegen die mögliche Pervertierung der Unschuldsvermutung schwere Bedenken an, ohne jedoch das System in Frage stellen zu wollen oder gar einen Ausweg aus dem Dilemma zeigen zu können - den gibt es tatsächlich nicht. Sie serviert dem Leser einen jederzeit möglichen Fall und macht dazu - indirekt - ihren Standpunkt klar.

So ist dieser Roman, dessen Handlung sich um die clevere und schließlich getötete Anwältin Aldridge rankt, auch eine - indirekte - Anklage der Autorin gegen Strafverteidiger, denen ein Gewissen weniger gilt als ihr übersteigerter Ehrgeiz. Sie macht ebenso deutlich, daß man solche „Siege“ des Rechts über die Gerechtigkeit nicht verhindern kann, ohne die Rechtssicherheit für alle in Frage zu stellen. Die wiegt schwerer als die Gefahr, daß im Einzelfall, den es immer wieder geben wird, ein Verbrecher straffrei ausgeht. Dieser wahrscheinlich bisher beste Roman der berühmten Autorin hat also einen beträchtlichen rechtspolitischen und rechtsphilosophischen Tiefgang, durchaus eine Ausnahme in der Kriminalliteratur. Die Lesbarkeit des Buches leidet darunter nicht im geringsten.

Nebenbei bietet P. D. James für Kenner des Strafrechts auch einen kleinen Ausflug in die Lehre des Cesare Lombroso (1836-1909), wonach es „geborene“ Verbrecher gibt, Tätertypen, die man an körperlichen Merkmalen erkennen kann, eine durchaus faszinierende, aber wissenschaftlich überholte Theorie, zu der sich unsere Autorin offenbar ein wenig hingezogen fühlt. Das kann man insbesondere an der Darstellung des jungen eingefleischten Verbrechers in diesem Roman erkennen, eines Psychopathen, was nach P. D. James „ein bequemes Etikett“ ist, um „zu definieren und zu kategorisieren, was eigentlich nicht erklärbar ist: das unergründliche Geheimnis des Bösen im Menschen“.

Mit einer breitgefächerten, dennoch übersichtlichen Handlung und meisterlich gestalteten Charakteren, ja einer ganzen Kette menschlicher Schicksale, selbstbestimmter wie fremdbestimmter, hat die Autorin ein wahres Kriminalpanorama geschaffen. Sie verzichtet fast vollständig auf reißerische Effekte, bewegt die Figuren vielmehr durch unvermutete und zunächst geheimnisvoll bleibende Ereignisse. Verliebt in Details, deren Schilderung überhaupt nicht ermüdet, sondern unterhält, zeichnet der Roman ein Bild der feinen Leute und der kleinen Leute, deren Moral sich nur äußerlich unterscheidet. Unter dem Mantel viktorianischer Tradition und Hochanständigkeit verstecken sich Unmoral und Verbrechen ebenso wie in den muffigen Mietskasernen des Spielorts London. Dorothy James, seit fast einem Jahrzehnt geadelt als Baroness James of Holland Park, schont ihre Upperclass nicht. Mit einer Ausnahme: Der Mord an der übertüchtigen Anwältin, zweifellos in deren eigenem Milieu von ihresgleichen verübt, ist nicht zu beweisen, der Täter wird unbestraft bleiben. Auch dies ist eine Folge der Unschuldsvermutung. Und selbstverständlich ermorden britische Anwälte sich nicht gegenseitig. Das darf niemals sein!

Der Verlag hat den Originaltitel, der ja wirklich etwas steif wirkt und für Deutschland wenig verkaufsfördernd sein könnte, durch ein leicht verkürztes Bibelzitat ersetzt. Akzeptabel wären die Worte der Schlange im Paradies zu Adam und Eva in der sprachlich einwandfreien deutschen Fassung „Was gut und was böse ist“. Abgesehen von diesem Schönheitsfehler ist der Titel durchaus beziehungsreich und im Sinne der kritischen Sicht des Buches: Die Menschen werden eben niemals sein wie der biblische Gott, wissend, was gut und was böse ist. Das jüngste Werk von Lady Dorothy aber ist rundum gut und ein absolutes Muß für jeden Liebhaber des gepflegten Kriminalromans. Kleine Anmerkung zu der ausgezeichneten Übersetzung: Im englischen wie im deutschen Strafprozeß gibt es keinen „Beklagten“ (S. 13) wie im Zivilprozeß, sondern der zunächst Beschuldigte wird mit Eröffnung der Hauptverhandlung zum Angeklagten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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