Eine Rezension von Helmut Hirsch


Wenig kann alles sein

Philippe Jaccottet: Nach so vielen Jahren
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.

Carl Hanser Verlag, München 1998, 99 S.

 

Philippe Jaccottet ist ein Augenmensch. Doch er sieht mehr, als sich dem Auge zeigt. Ein gefaltetes Tuch vor einem leeren Himmel ist wenig, fast nichts. Kann aber, wenn es sich um ein Bild von Giotto und dazu noch um eine Beziehung zum Leben einer gerade verstorbenen Freundin handelt, alles sein. Alles, was wesentlich ist, nämlich Kunst als höchste menschliche Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit zumal, die für einen seltenen, aber ganz wichtigen Moment den „anderen Blick“ auslöst: „Manchmal könnte man glauben, es bestehe kein großer Unterschied zwischen dem Blau des Himmels und den Vögeln, seinen Bewohnern.“

Das sind Bilder, die im Licht aufgehen, Momente des Einsseins von Mensch und Natur, Betrachtetem und Betrachter. Philippe Jaccottet, der im südfranzösischen Grignan lebt, hat alles, was seine Poesie - Prosa und Gedicht - braucht, unmittelbar vor sich. Blumen, Flüsse, Landschaften. Der „Blick auf den See“ ist immer ein anderer: „Eine leichte Veränderung des Blickpunkts genügt zuweilen, um wiederzuentdecken, was die Gewohnheit betrübt oder verschleiert hat.“ Die Gewohnheit verdrängt Bilder alter und ursprünglicher Erfahrung. Wenn der Dichter bei seinen Streifzügen Pfingstrosen sieht, sieht er wieder das Blühen und Vergehen der Blumen in den Jahren der Kindheit. Für Jaccottet ist die Pfingstrose „die älteste Blume“, an die er sich erinnert, besonders unter regennassen Gartenbüschen. Nicht frei von Melancholie, sehr klingender, ist der Gedankengang, denn man wird „vielleicht entdecken, daß man keinen Schatten mehr wirft, daß unsere Schritte keine Spuren mehr hinterlassen im Schlamm“.

Immer wieder die Gewißheit, daß wenig alles sein kann. Oder doch fast nichts. Nur der besonnene Blick, so scheint es, rettet vor einem frühzeitigen Absturz: „Vielleicht nur ein wenig Glut und Staub ist in einer endlosen Verschachtelung schwarzer Abgründe.“ Dichter und Leser scheinen miteinander die Gegend zu durchstreifen. Sie kommen durch Obstgärten, „seiner Blüten beraubt, vor einem Hintergrund aus Stein und staubiger Erde; Wege, die sich schnell in knorrigem Buchsgebüsch verlieren“. Alles ist in Bewegung, doch nichts scheint sich aufzulösen. Die Wanderer sehen die Landschaft und blicken doch auch wieder weit weg, in sich hinein, Gesehenes und Erlebtes magisch miteinander vereinend. Die Verfahrensweise addiert beide Sphären zu Sinnbildern, zu Licht-und-Schatten-Erlebnissen. Plötzlich steht der Dichter auf einem Bollwerk, und was sich ihm darbietet, ist der Blick in die Landschaft und dennoch auch ein Bild seines Lebens: „Wer daran zweifelte, daß die Welt ist, zweifelte, daß er selber ist, wird hier geheilt von dem, was nur noch Krankheit ist oder Schwäche oder Feigheit. Diese Terrasse mit ihren Steinplatten, aus den Fugen geraten und von strohfarbenem Gras überwuchert, ist unter diesem Licht hier ebenso wirklich wie der heftigste Schmerz.“

Manchmal hört Jaccottet auf die Stimmen, die ihm alles oder nichts sagen. Die Natur schweigt, der Dichter denkt. Also ist die Sprache der Natur seine Erfindung. Bewegungen sind Anlässe für Verwandlungen, nur eine Drehung des Körpers auf einem Weg bringt ein ganz anderes Licht, durchströmt den Kopf mit neuen Gedanken. Nie wird der Dichter weitschweifig, auch nicht in den Prosagedichten. Wofür ein Erzähler ein ganzes großes Kapitel benötigt, genügt ein Satz: „An dieser Furt braucht man nicht zu trinken: der Blick allein genügt, um jeden Durst zu stillen!“

Es ist, als löse sich das poetische, das wandernde Ich in der Landschaft auf. Nicht um zu verschwinden, sondern um einzugehen in die Elemente der Natur, ganz Natur zu sein. Jaccottet beschreibt diese Prozesse, diese erlebten Verwandlungen. So wenn ihm in der Nacht „andere Bilder von Spaziergängen wiedererscheinen; beim Erwachen aus einem jener Träume, in denen man wünscht, ihr feuchter und schwindelerregend weicher Knoten möge sich niemals lösen“. Es ist ein Zusammenfließendes, noch Wirklichkeit und somit ein Stückchen Welt, „zugleich eine Art Vision, so befremdend, daß es einen den Tränen nahebrachte“. Stimmen sagen, Freund verharre oder gehe weiter. Es ist der Ort selbst, der spricht, das Ohr des Dichters empfängt diese Töne.

Klingen keine Erfahrungen von einst und gestern auf, werden neue gemacht. Bilder akkurat aus der Landschaft heraus entworfen, Tätigkeiten in beiden vorgestellt.

Der 1925 in Moudon in der Westschweiz geborene Philippe Jaccottet hat Hölderlin und Musil ins Französische übersetzt. Im Gedicht „Etruskische Dame“ versetzt sich der poetische Betrachter (Dichter und Leser) in weit zurückliegende Zeiten, als die Schöne noch „die ganze Liebe eines Mannes, / für eine toskanische Jahreszeit oder ein Leben“ war. Doch längst mußte die Etruskerin „den sanften Wind verlernen“, und der Dichter wagt einen Blick in Zeiten, die fremd oder zukünftig sind, das Bild des Todes bekommt plötzlich Leben: „Wie seltsam jedoch, diese Bilder von Toten, / die noch immer eine vage Form von Liebe erwecken / bei den Schatten, die wir geworden sind!“

Was ist Leben? Über diese Frage hat Jaccottet gründlich nachgedacht. Seine Auskünfte, poetisch und visionär, bringt er selbst auf die kurze Formel: „Eine Art Exil, eine Art Gefangenschaft im Licht.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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