Eine Rezension von Bernd Heimberger


Reisen eines Regsamen

Julien Green: Tagebücher 1990-1996
Aus dem Französischen von Elisbeth Edl.

Paul List Verlag, München 1999, 772 S.

 

Julien Green, bei den Worten des Julien Green genommen, hielt sich für eine gute Gabe Gottes auf Erden. Und Gott hielt Green für einen ausgezeichneten Gottes-Propagandisten, der so manches aufs Papier brachte, was Gott gefällig, also gottgefällig war. Green beim Wort genommen, ist zu glauben, daß ihm Gott höchstselbst die Romane diktierte, die er niederschrieb und veröffentlichte. Auch die Tagebücher, die der Autor füllte, sind Auftragswerke. Nicht von höherer Instanz inspiriert, trieb die befreundete wie feindliche Welt Green dazu, seine Tagebuch-Briefe zu verfassen, wie er die Notizen nannte. Zu sagen war der ganzen Welt, wie sich der Schreiber inmitten der befreundeten und feindlichen Welt fühlte. Auf dem Globus hat’s der gebürtige Pariser amerikanischer Herkunft, der im geliebt-gehaßten Paris starb, fast volle 98 Jahre ausgehalten. Gottgewollt?! Julien Green ging mit dem Jahrhundert, wie die Jahrgangsgenossin Anna Seghers selig zu sagen pflegte. Alle Welt, zumindest die befreundete, bereitete sich bereits darauf vor, 2000 den Hundertsten des feinen Pariser Herrn zu feiern. Gott hat den Hoffenden einen Strich durch die doppelt runde Rechnung gemacht. Während Julien Green nun in seiner Klagenfurter Kapelle ruht, stellt die Nachwelt fest, ganz im Sinne des von Green geschätzten Augustinus: Alles, was zu Ende geht, ist zu kurz. Mit dem Ende des langen Lebens des Schriftstellers geht eine einzigartige literarische Langzeitbeobachtung des Jahrhunderts zu Ende. Green gehört eingetragen ins Guinness-Buch, sofern Leute seines Schlages überhaupt ein Platz in dem Schinken der Rekorde zusteht!

Mit dem jüngst ausgegebenen Band der Tagebücher 1990-1996 - in der edlen Übersetzung von Elisabeth Edl - sind fast anderthalb Dutzend komplett. Versprochen ist, daß uns die letzten anderthalb Jahre - ohne Ausklang und Abschied? - nicht vorenthalten werden. Ist das Ganze dann beieinander, können wir uns auf was gefaßt machen. Nämlich auf die „vollständigen Tagebücher“ des Julien Green. Oh, mein Gott! Gott behüte! Ist ein Thomas Mann nicht genug? Also die Lektion, daß nicht alles nach draußen muß, was nicht zur rechten Zeit nach draußen sollte. Was wollen sie von uns, die bekehrenden Bekenner und bekennenden Bekehrer, die auf dem verdeckten Papier potenter waren als in der gezeigten Tat?

Manchen war Green nicht grün. Er war der feine Pinkel, der falsche Hund, die feige Memme, der dumme Duckmäuser, der klerikale Spinner. Green hat immer zugegeben, daß der Frieden in ihm, um ihn, das Wesentlichste war, um ein lebenswertes Leben zu leben. - „Mein Glück ist mir wichtig.“ - Es ist vollbracht! Sein angestrengtes angestrebtes Selbst-sein hat Green viel Achtung eingebracht. Kritiker trauten dem Katholiken nie über den Weg, seit er, als Sechzehnjähriger, einen Kniefall als Konvertit tat. Gebrauchte oder mißbrauchte der stramme Sünder die Kirche als Sühnestätte? Der papsttreue Glaubensbruder hat den Hader ausgehalten, den er als praktizierender, dann erkannter, dann anerkannter Homosexueller aushalten mußte. Immer, versteht sich, auf die feine, gottesfürchtige Art, die sich vom Straßenstreit der Schwulen weit genug fernhielt. Vermutlich war der entkrampfte Mann nicht tatsächlich unverkrampft. Wie der 92jährige, der nach einer Bach-Melodie Tränen in den Augen hatte und sein Tagebuch fragt: „... warum sollte ich es nicht sagen?“ Ja, warum denn nicht? Welche Geheimnisse müssen Greise wahren, bewahren? Weinen Greise nicht? Wenn das kein Fauxpas ist, Green einen Greis zu nennen! Gemessen an Green sind die meisten Menschen Greise. Greise im Geiste. Auch im Körperlichen. Die Altersaufzeichnungen sind voll der Freude, weil voll der Freuden eines Regsamen, der im Kopf und in der Realität stets ein Reisender gewesen ist. Das Alter und Altern drückte Green offenbar nicht. Oder drückte er sich? „1990 ... da war ich noch jung“, schreibt der 93jährige eher gelassen, aber auch überzeugt. Immer hat er sich als Junger, als Kind der gottgewollten Welt gefühlt. Es ist nicht die eine Religion, die das Hauptthema der Tage von Green ist. Es ist das grundsätzliche Gottvertrauen, das seine Gottgläubigkeit ausmacht und es dem Glaubenspraktiker gestattet, sich eine eigene Erbauungsphilosophie zusammenzuschreiben. Diesem nicht unerheblichen Teil des Tagebuchs zu folgen wird nur Gleichgestimmten und -gesinnten gelingen. Wem die geistlichen Debatten auf den Docht gehen, der zieht gewinnbringende Extrakte aus ihren philosophischen, möglicherweise auch mystischen Teilen. Wäre Julien Green gesagt worden, er sei ein gläubiger, philosophischer Mystiker, er hätte aufgesehen und nicht nur mit dem Kopf geschüttelt. Verärgert hätte ihn vielleicht die Behauptung, als Politiker einen Fehlpaß nach dem anderen geschossen zu haben. Dem politisierten Schreiber fehlt der Schwung des jungen Jahrhunderts, das sein Jahrhundert war wie das Paris seiner Kindheit sein Paris. In den politischen Passagen ist manches von den Schwächen des alterslosen Alten. Zum Vorschein kommen gut behütete Ressentiments aus der Historie der deutsch-französischen Erzfeindschaft. Der alte Herr wiederholt zuviel - wie das Alten häufiger widerfährt -, was ihm ansonsten nicht angekreidet sein soll. Hundertmal darf, soll, muß er wiederholen und so erweitern, wenn er über seine beständigsten Lieben spricht: die Sprache, die Musik, die Literatur. Green, der die Verurteilung, ein „Träumer und Poet“ zu sein, als Lob annahm, ist kein logischer Analytiker. Er ist einer, der genau spürt, um Genaues zu wissen. Immer, in allem und überall, ist der Schriftsteller ein Schauender, dessen Offenbarungen einem keinen Schauer über den Rücken jagen. Man ches Gesagte hat den Glanz jener geglätteten Eleganz, die gähnen läßt. Dennoch ist Green keiner der Ästheten, die den Stil eines Satzes dem Inhalt vorziehen, so wichtig der Stil auch ist. Schöne, starke Sätze, zum Anstreichen oder Herausschreiben, gibt’s en masse auf den Seiten der letztgelieferten Tagebücher. In der Klarheit der Sätze ist die Wahrheit, die schnell wechselnden Tageswahrheiten die Tür weist. Was dazu führt, daß der Weise oft fragend dasteht und seine Antwort eine Frage ist. Die Frage wird den Lesern geschenkt, die sie zu beantworten haben. Green gut verstanden, heißt das, sich eine Stunde Musik zu gönnen? Täglich. Und die Antwort kommt von selbst. Wer kann sich das leisten? Nur ein Privilegierter, der Julien Green war? Wie sich privilegieren und sich mehr Leben leisten? Schlagen Sie mal nach bei Green! Zum Glück braucht man zum Glück nicht viel. Nur viel Glück. Oder die Tagebücher von Julien Green.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite