Eine Rezension von Eberhard Fromm


Eine Deutschlandbesichtigung

Ralph Giordano: Deutschlandreise
Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat.

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, 383 S.

 

Dieses Buch legt man nicht so schnell aus der Hand, wenn man erst einmal zu lesen begonnen hat. Die Reise durch Deutschland, die der Autor 1996 unternahm, bietet ihm Gelegenheit, über das Land und seine Menschen, über Geschichte und Gegenwart, über private biographische Details und Jahrhundertfragen nachzudenken. Vorbilder dieser Art einer Deutschlandbesichtigung gibt es viele; auf Heinrich Heines Deutschland - ein Wintermärchen und Deutschland, Deutschland über alles von Kurt Tucholsky und John Heartfield wird explizit verwiesen. Doch Giordano hat seine ganz eigene Art, seine Heimat zu betrachten. Bei ihm werden aktuelle Erlebnisse dieser Reise durch das wiedervereinigte Deutschland mit Erinnerungen an das eigene Leben und die Verfolgung in der NS-Zeit verwoben; Gespräche aus dem Jahre 1996 sind Anlaß, auf das bisherige literarische Schaffen Bezug zu nehmen; anrührende Landschaftsbeschreibungen wechseln mit sachlichen Informationen zur Geschichte der eben beschriebenen Region. Und das alles auf einem hohen sprachlichen Niveau - man wird als Leser vom Inhalt und von der sprachlichen Darstellung gleichermaßen gefesselt.

Der 1923 in Hamburg geborene Ralph Giordano wurde vor allem mit seinem Roman einer Hamburger Familie Die Bertinis (1982) bekannt. Mit der jüngeren deutschen Geschichte setzte er sich auch in solchen Arbeiten wie Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte (1989) oder Wird Deutschland wieder gefährlich (1993) auseinander. Und mit Reisebüchern hat er auch gute Erfahrungen, wovon die Bücher über Israel, Irland und Ostpreußen zeugen. Seine Deutschlandreise stellt dabei sicherlich einen Höhepunkt dar. Von Köln bis Hamburg, von Sylt bis zum Obersalzberg, von Rügen bis Dresden führen ihn seine Streifzüge. Was er dabei entdeckt, sind treffende Momentaufnahmen, aber auch innere Zusammenhänge mit historischem Hintergrund. Und stets wird in den Reflexionen deutlich, daß der Autor auf der Suche ist, sein Verhältnis zu seiner Heimat zu finden, zu bestimmen, vielleicht auch zu verändern. Denn seit er mit seiner Familie 1945 aus dem Hamburger Versteck herauskommen konnte, ging es ihm in dieser „fast lebenslangen Auseinandersetzung“ mit dem Nationalsozialismus auch immer um die innere Befreiung von der Nazizeit. Den dabei eingeschlagenen Weg beschreibt Giordano so: „mir selbst zu helfen dadurch, daß ich berühre, daß ich anfasse, andenke, was mir seinerzeit Abscheu, Todesangst, Grauen eingeflößt hat - und daß ich mich ihm stelle“.

Giordano hatte sich nach 1945 der KPD angeschlossen. Seinen Bruch mit der KPD und der DDR im Jahre 1957 empfand er als eine Befreiung, ohne die er geistig, politisch und moralisch verkrüppelt wäre: „Der Bruch war die elementare biographische Voraussetzung dafür, das Weltbild einer ungeteilten Humanitas wiederzugewinnen und ihre Empörung gegen jede Menschenrechtsverletzung, gleich von welchem System sie auch immer begangen wird. Es war diese innere und äußere Trennung, die den Weg frei machte für alles, was danach von mir als Journalist, Publizist, Fernsehautor und Schriftsteller kam ...“

Von eigenem Wert sind die eingearbeiteten Aussagen des Hobbymüllers aus dem Oderbruch und des Stadtstreichers aus Dortmund, die Gespräche des Autors mit dem Schriftsteller Wolfgang Schreyer. Die hier geäußerten ganz individuellen Ansichten stehen für sich, bieten aber zugleich dem Autor die Möglichkeit, seine Position zu bekräftigen und in der Polemik zu entwickeln. Gerade bei den Entdeckungen in den neuen Bundesländern wird dieses Prinzip wichtig, verhindert es doch Einseitigkeiten jeder Art. Empfehlenswert ist hier besonders der mit „Einsichten in Hoyerswerda“ überschriebene Abschnitt.

Die Deutschlandreise ist eine Reise durch Zeit und Raum, wobei die Zeit das ganze 20. Jahrhundert umfaßt - und manchmal etwas mehr - und der Raum das ganze Deutschland - und in diesem Deutschland manchmal auch die ganze Welt. Und wenn man an die Widersprüche und Konflikte dieser Zeit und dieses Raumes denkt, kann man den Stoßseufzer des Autors nur zu gut verstehen: „O du verdammtes, du ambivalentes 20. Jahrhundert - warum bloß setzt du einen immer wieder solchen Wechselbädern der Gefühle aus?“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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