Eine Rezension von Elfriede Brüning


Schuld oder Nichtschuld - das ist die Frage

Vera Friedländer: Eine Mischehe oder der kleine Auftrag aus Jerusalem

Verlag am Park, Berlin 1998, 147 S.

 

Die als Autorin unter dem Namen Vera Friedländer bekannte Sprachwissenschaftlerin (ehemalige Professorin an der Humboldt-Uni) hat schon in ihrem ersten Buch Man kann keine halbe Jüdin sein (Agimos-Verlag, Kiel 1996) auf bewegende Art das Schicksal ihrer jüdischen Großfamilie beschrieben, deren Angehörige nach und nach aus Berlin verschwanden; einigen gelang es noch, ins Ausland zu entkommen, andere wurden deportiert, kamen nach Theresienstadt oder nach Auschwitz. Vera selbst wurde als Fünfzehnjährige dienstverpflichtet, mußte für die Firma Salamander Schuhe von Juden, die vergast worden waren, wieder „aufpolieren“. Das Trauma aus jener Zeit, da sie sich an dem spröden, borstigen Material die Hände blutig riß und in ständiger Angst um das Schicksal ihrer jüdischen Mutter lebte, die nach der „Fabrikation“ der Nazis 1943 auch als Ehefrau eines nichtjüdischen Mannes nicht mehr geschützt war, wirkt offenbar so tief in ihr nach, daß sie sich immer wieder jenen schrecklichen Jahren und dem jüdischen Leiden zuwendet. Auch ihr neuestes Buch, Eine Mischehe, behandelt dieses Thema. Diesmal geht es um eine tragische Dreiecksgeschichte, um Schuld oder Nichtschuld der Beteiligten, um die Frage nämlich: War die Verhaftung der Hanna Hungerland und ihr späterer Tod in Ravensbrück auf die Denunziation eines Nachbarn zurückzuführen oder darauf, daß sich ihr nichtjüdischer Mann - ohne ihr Wissen - von ihr scheiden ließ? Denn „so waren die Gesetze des Verbrechens“, erinnert Vera Friedländer. „Ein arischer Mann, der mit einer Jüdin verheiratet war, konnte amtlich seinen Wunsch nach Scheidung erklären, und die Scheidung wurde sofort vollzogen, woraufhin die Jüdin nur noch Jüdin und nicht mehr die Frau eines Ariers war. Der arische Mann als Schutzschild entfiel auf der Stelle, und die Frau war für die Deportation freigegeben.“

Die Verbrechen der Nazis an den Juden liegen über fünfzig Jahre zurück, und manch einer fragt sich vielleicht, ob Ereignisse von damals den heutigen Leser überhaupt noch erreichen können. Die Autorin tat daher gut daran, ihre Geschichte aus heutiger Sicht zu erzählen. Ihre Hauptfigur Simon, ein Schriftsteller und Journalist, begegnet auf einer Israel-Reise überraschend seiner Jugendgefährtin Luise, die ihn beim Abschied bittet, für sie in Berlin einige Nachforschungen anzustellen. Sie wüßte gern, was aus dem Sohn ihrer ehemaligen Lehrerin, bei der sie Malunterricht genommen hat und die leider in Ravensbrück ums Leben kam, geworden ist. Sie habe nie mehr etwas von ihm gehört.

Simon entledigt sich seines Auftrags mit größter Sorgfalt. Als Journalist ist er es gewohnt, Recherchen zu machen und sich dem „Objekt seiner Begierde“ auf den verschlungensten Wegen zu nähern. Und seines journalistischen Spürsinns bedarf es schon, um das Haus, in einem Berliner Vorort gelegen, ausfindig zu machen, dessen Adresse ihm Luise genannt hat. Straßennamen wurden inzwischen geändert, Hausnummern vertauscht, und Alfred Hungerland, der Vater des Gesuchten, ist vor ein paar Jahren verstorben. Doch seine zweite Frau Lilli, gleichfalls eine Jüdin, die nun allein in dem Haus lebt, in dem sie vor Jahren Zuflucht fand, empfängt ihn. Von ihr erfährt Simon die Version, daß Hanna, Alfreds erste Frau, von einer Frauenschaftsführerin angezeigt wurde, weil sie den Stern nicht trug und auch nicht mit Sara unterschrieben hatte. Die Adresse von Joschua, dem Sohn, aber wisse sie nicht, da dieser jede Verbindung zu seinem Vater und zu ihr abgebrochen habe. Simon bleibt also nichts anderes übrig, als einen Detektiv zu bitten, ihm bei seiner Suche nach dem Sohn zu helfen, was schließlich auch zum Erfolg führt. Die Begegnung mit Joschua, einem früheren, jetzt „abgewickelten“ Offizier, der nach dem Tod seiner Frau allein lebt, verläuft durchaus erfreulich und führt später sogar zu einer Männerfreundschaft der beiden, die viel Gemeinsames haben. Nur in einem kann Simon seinem neuen Freund nicht folgen: in dessen schroffer Verurteilung seines Vaters und seiner zweiten Frau Lilli, auf deren Drängen, wie er meint, die Scheidung von seiner Mutter erfolgte - womit ihr Todesurteil gefällt war. War es so? fragt sich Simon immer wieder, und er unterläßt nichts, um hinter die Wahrheit dessen zu kommen, was sich in jener gefährlichen Zeit zwischen den beiden Jüdinnen, der Ehefrau Hanna und der um zwanzig Jahre jüngeren Geliebten von Alfred, dem Nichtjuden, abgespielt hat. Ich will hier nicht die Lösung des Rätsels verraten, die schließlich offenbart wird. Nur soviel: Simon verfolgt, wie ein echter Kriminalist, minutiös jede Spur, und so liest sich das Buch über Seiten hinweg wie ein spannender Krimi. Aber es ist weit mehr als das. Das Buch enthält schöne Schilderungen der Berliner Umgebung, philosophische Gespräche und sehr genaue Beobachtungen unseres heutigen Lebens mit Ausländerfeindlichkeit und Kiez-Romantik, so daß sich schon deshalb die Lektüre lohnt.

Ein einziger Einwand: Ich habe einige Angaben über Simons Leben vermißt. Man erfährt von ihm nur, daß er Schriftsteller ist und ein Buch über die authentische Geschichte plant, der er gerade auf der Spur ist - ein Vorhaben, das er später allerdings aus Rücksicht auf die noch lebenden Personen, die sich durch seine Schilderung verletzt fühlen könnten, wieder aufgibt. Aber ist er verheiratet, verwitwet wie Joschua oder geschieden? Hat er eine Lebensgefährtin? Man erfährt darüber nichts. — Und zuletzt eine Frage am Rande: Oft ist in den Gesprächen die Rede von „Jüdischkeit“. Das Wort war mir bis heute unbekannt. Aber die Sprachwissenschaftlerin Vera wird mir die Entstehung des Wortes sicherlich erklären können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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