Eine Rezension von Waldtraut Lewin


Jakob der Diener - sehr nobel

Denis Diderot: Jakob und sein Herr
In der Übersetzung von Wilhelm Christhelf Mylius 1792.

Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1999, 447 S.

 

Dies ist ein Band der Reihe „Die andere Bibliothek“, die von Hans Magnus Enzensberger bei Eichborn herausgegeben wird, und gediegener geht’s nimmer. Das numerierte Exemplar, das ich da in der Hand halte (Nr. 4220), ist aufs feinste gebunden, das edle Papier geht mit dem Zweifarbendruck eine bezaubernde Allianz ein, und die nachgedruckten Kupfer aus der Encyclopedie haben zwar mit dem Inhalt nichts zu tun, geben aber auf reizende Weise Zeitkolorit. Der Text wird komplettiert durch eine Hommage an Diderot von Jacob Heinrich Meister und eine von seiner Tochter verfaßte Biographie.

Merkwürdig genug ist die tradierte Geschichte dieses Buches, des „ersten experimentellen Romans“, den der Vater der „anderen Bibliothek“, Hans Magnus Enzensberger, für „eines der intelligentesten Bücher der Weltliteratur“ hält. Die Übersetzung von Mylius, auf die der Verlag zurückgreift, erschien 1792 in Berlin - das waren genau vier Jahre, bevor Jacques le fataliste et son maître in Paris erscheinen konnte. Aus Angst vor der Zensur hatte Diderot das 1775 geschriebene Werk in der Schublade verschwinden lassen - er hatte schon einmal dreieinhalb Monate wegen Verstoßes gegen die Zensurbestimmungen abbrummen müssen. Das Werk kursierte unter der Hand in Abschriften, wurde immer wieder auszugsweise publiziert, kam aber erst acht Jahre nach dem Tod des Verfassers vollständig heraus.

Der große Enzyklopädist ist von Mylius in ein witziges, kraftvolles und anmutiges Deutsch übertragen worden, und die Frische dieser über zweihundert Jahre alten Sprache besticht. Die Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden beibehalten - im Dezennium der Rechtschreibreform ein besonders verdienstvolles Unternehmen, zeigt es uns doch, wie sehr wir heute den Weg der sprachlichen Versteppung eingeschlagen haben.

„Einschüchterung durch Klassizität“ ist bei diesem unter anderem von Goethe und Lessing hochgeschätzten Autor fehl am Platze, denn Diderot, einer der Väter der Aufklärung und unserer gemeinsamen europäischen Literatur schlechthin, ist Gott sei Dank ungebrochen amüsant. Und in gewisser Weise ist es ein Jammer, daß uns Jakob und sein Herr in dieser bibliophilen Superausgabe vorliegt; man traut sich ja gar nicht, es an den Strand oder in die U-Bahn mitzunehmen, wo man es statt eines mehr oder weniger langweiligen Krimis genußvoll konsumieren könnte.

Worum geht es in dem Roman? Um alles und nichts. Eigentlich gibt es gar keine Handlung, vielmehr ist die Handlung so banal, daß man sie mit einem Satz erzählen kann: Irgendwo in Frankreich reisen Jakob und sein Herr per Pferd durch die Gegend und erzählen sich Geschichten - falls sie denn dazu kommen. Sie werden ständig unterbrochen, durch unvorhergesehene Ereignisse, durch andere Geschichten, die sich aus den Geschichten ergeben, in denen wieder Geschichten stecken (das „Matroschka-Prinzip“), oder einfach durch den Autor selbst, der sich einmischt und mit seinen Figuren oder auch mit dem Leser in Dialog tritt. Übrigens ist der fatalistische Diener, der von allem behauptet, so stünde es „dort oben geschrieben“, derjenige, der ständig aktiv ist, während sein skeptischer Herr faul und phlegmatisch ist. Der Diener dominiert den Herren. Das alles ist ungeheuer witzig und lebendig, und da man keinem romanhaft kontinuierlichen Handlungsfaden folgen muß, kann man jederzeit an jeder beliebigen Stelle in das Buch einsteigen und wird sich schon bei den ersten Sätzen, die man konsumiert, königlich vergnügen. Das ist französischer Esprit pur, dreist und frech und erotisch und provokant.

Alles in allem ein Buch so schön wie gut, Augenweide und Sinnenlust zugleich, die Form fast zu vornehm für den Inhalt - aber wir tun ja denn doch gut, uns der Vergangenheit mit fröhlichem Respekt zu nähern.

Gibt es denn, um im Stil zu bleiben, gar nichts zu bemängeln? O doch, geneigte Leser: das Lesezeichen! - Das Lesezeichen? Ja, was ist denn damit? - Nun, es ist sehr dünn und aus allzu weicher Seide, wiewohl in leuchtendem, leicht auffindbarem Rot. Aber es liegt nicht besonders gut in der Hand. - Und das wäre alles? - Ja, das wäre alles.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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