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Ulrich Krellner

„Im Strudel des Jahrtausend-Ausgusses?“

Retrospektiven und Perspektiven in der Literatur der neunziger Jahre

 

Die Literatur des Nachwendejahrzehnts beschreiben heißt einen Überblick wagen, der doch aus der fehlenden zeitlichen Distanz heraus kaum möglich zu sein scheint. Jede Auswahl aus der Fülle der erschienenen Texte bleibt notwendig mit dem Anschein der Willkür behaftet - und ist dennoch nötig, will man wichtige Tendenzen an Hand konkreter Beispiele deutlich machen. Um die Aussagekraft einer solchen Unternehmung zu erhöhen, scheint es sinnvoll, die Analyse auf einige spezifische Fragestellungen und Themen hin zuzuspitzen und damit das Feld weiter einzugrenzen. Zu diesem Zweck sollen hier neun Werke von Autoren aus Ost und West auf die literarischen Verfahren näher untersucht werden, in denen sie sich der nach 1989 veränderten sozialen Realität in Deutschland stellen, bzw. mit denen sie die vergangene Realität neu deuten. Die Untersuchung konzentriert sich deshalb auf Texte, denen es - im weitesten Sinne - um eine wirklichkeitsnahe Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Welt geht. Anliegen wird es sein, thematische Schwerpunkte dieser Literatur herauszufinden und dabei der Frage nachzugehen, ob sich der nun allen Autoren gemeinsame gesellschaftliche Bezugsrahmen des wiedervereinigten Deutschland auch in einer ,gesamtdeutsch‘ zu nennenden Literatur niedergeschlagen hat.

Für die Zeit vor 1989 ist herausgearbeitet worden, daß die Einheit der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg ein Problem darstellt.1 Auf dem ersten Schriftstellerkongreß, der vom 4. bis 7. Oktober 1947 in Berlin stattfand, formulierten die Autoren noch das Ziel, der sich andeutenden Teilung der vier Besatzungszonen ein „Parlament des Geistes“ (Carsten Gansel: Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945-1961, Berlin 1996, S. 59) entgegenzusetzen. Nach 1949 wurde jedoch immer deutlicher, daß nach der staatlichen Trennung auch die Literatur getrennte Wege gehen würde. Auf dem fünften Schriftstellerkongreß 1961, kurz vor dem Mauerbau, vermerkt Brigitte Reimann: „Permanenter Streit zwischen unseren Schriftstellern und dem westdeutschen Günter Grass - wir finden keine gemeinsame Sprache mehr, trotz gutgemeinter Versuche, und ich fürchte, nicht einmal die gemeinsame Aufgabe, den Frieden zu erhalten, vermag uns noch zusammenzuführen.“ (Brigitte Reimann: Ich bedauere nichts. Tagebücher 1955-1963, Berlin 1997, S. 188) Verschärft wurde diese Entfremdung durch Ulbrichts repressive Kulturpolitik nach dem 11. Plenum im Dezember 1965. Die Abschottung der DDR-Literatur nach außen hin durch die fehlenden Kontaktmöglichkeiten zu westdeutschen Schriftstellern wurde seitdem flankiert von nach innen gerichteten Repressionen gegen die in der DDR schreibenden Autoren. Einen Höhepunkt markiert die Ausbürgerung Biermanns im November 1976, die unter den Schriftstellern der DDR eine „Abwanderungswelle von vorher unbekannten Ausmaßen“ (Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuauflage, Leipzig 1996, S. 257) in Gang setzt. Allerdings ist damit der Zenit der Entfremdung bereits überschritten, denn in den achtziger Jahren kommt es - so die These von Hartmut Steinecke - unter dem Vorzeichen von Subjektivität und Individualismus zu einer „allmählichen Wiederannäherung“2 der deutschen Literaturen in Ost und West. Diese Wiederannäherung, das soll eine Analyse der Gegenwartsliteratur zeigen, ist bis heute noch nicht abgeschlossen.

Überwacher und Überwachte - das Stasi-Syndrom

Neben zahlreichen anderen Konflikten und Kontroversen, die die Vereinigung der beiden deutschen Staaten begleitet haben, kam es in der unmittelbaren Folge der Wende zum sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit. Christa Wolfs Erzählung Was bleibt löste 1990 jene Debatte aus, in der es unter anderem um die Legitimation der in der DDR gebliebenen Schriftsteller ging. (Vgl. Thomas Anz [Hrsg.]: Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland, erweiterte Neuausgabe Frankfurt/M. 1995.) Die Auseinandersetzungen erhielten Anfang der neunziger Jahre weitere Nahrung, als nach der Offenlegung der Akten des Staatssicherheitsministeriums die individuellen Kontakte der Schriftsteller zum MfS erkennbar wurden. Alle daraus hervorgegangenen Kontroversen waren um Personen und erst in zweiter Linie um die eigentliche Literatur zentriert. Erst 1993 lag mit Wolfgang Hilbigs Roman Ich ein Text vor, der diese Diskussionen in den Bereich fiktionaler Gestaltung überführte. Es handelt sich dabei nicht nur um den frühesten, sondern zugleich auch provokantesten Beitrag, der die Wirksamkeit des Stasi-Syndroms in der Literatur der neunziger Jahre dokumentiert. Die Herausforderung des Buches liegt in der Perspektive, aus der die DDR-Gesellschaft kurz vor der Wende porträtiert wird, denn W., der Held des Romans, ist IM des Staatssicherheitsdienstes.

Um die prekäre kompositorische Entscheidung für diesen Blickwinkel einordnen zu können, muß man sich ins Gedächtnis rufen, daß Wolfgang Hilbig in der DDR selbst jahrelang überwacht wurde und bis zur Erteilung einer Reiseerlaubnis für die Bundesrepublik im Jahr 1985 im Schatten der Stasi gelebt und gearbeitet hat. Die Behinderungs- und Verhinderungsbemühungen seitens der DDR-Behörden waren im Falle Hilbig so massiv wie gegen wenige andere Autoren. Nachdem Klaus Höpcke, stellvertretender Kulturminister und Oberzensor der DDR, im Juli 1979 die Veröffentlichung von Hilbigs erstem Gedichtband abwesenheit persönlich unterbunden hatte, erschien das Buch im S. Fischer Verlag. Hilbig wurde vor der Publikation mehrere Wochen inhaftiert und nach dem Erscheinen mit einer Geldstrafe von 2000 Mark belegt, wegen angeblichen Vergehens gegen die Devisengesetze der DDR. Diese drastische Maßnahme, die früher bereits gegen Robert Havemann und Stefan Heym angewendet worden war, praktizierte man hier erstmals gegen einen der Nachwuchsautoren, die noch keinerlei publizistische Aufmerksamkeit in der Westpresse - und damit keinen Schutz - genossen. In der Folge legte die Stasi mehrere „Beobachtungsberichte“ über Hilbig an und machte ihn zum Ziel einer operativen Personenkontrolle mit dem Decknamen „Literat“. Bevor 1983 Teile des Erzählbandes Unterm Neomond nach vielen Widerständen auch in der DDR erscheinen durften3, wurde gar ein vom MfS beauftragter Gutachter tätig. (Vgl. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheitsdienst in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996, S. 313) Die permanenten Schikanen der Behörden resümiert Hilbig in einer brieflichen Äußerung gegenüber seinem Lektor, wenn er feststellt, „daß ich der kulturellen Szene, aus der ich komme, [...] nichts zu verdanken habe“.4

Vor diesem Hintergrund versteht sich die Erzählperspektive im Roman Ich als Versuch einer literarischen Annäherung an den radikalen Gegenpol schriftstellerischer Arbeit. Der Versuch wird um so brisanter, als mit dem IM „Cambert“ alias „W.“ oder auch „M. W.“ kein beliebiger Zuträger der Stasi ins Zentrum des Erzählens gerückt wird. Der aus einer Kleinstadt im sächsischen Braunkohlerevier stammende, später in Berlin lebende W. ist vielmehr selbst als Arbeiterschriftsteller hervorgetreten. Tagsüber schippt er in einem Kombinat Kohle, nach der Arbeit ist er „andauernd in Schreibversuche verstrickt... verstrickt, sagte er... in Unmengen von Entwürfen, die er immer wieder verschieden begann oder variierte und mit denen er sich umgab wie mit einem unsichtbaren Schirm“.5 Dieser Schirm hat offensichtlich die Funktion, die triste DDR-Realität vom eigenen Leben abzuwehren. Allerdings ist das nur um den Preis einer Wahrnehmungstrübung möglich, die schließlich seine Anwerbung durch das MfS durchführbar macht. Er wird zur Mitarbeit erpreßt, indem man ihm eine Vaterschaft anhängt, die real nicht existiert.

Nachdem die Stasi seinen Umzug nach Berlin veranlaßt hat, beginnt W. als informeller Mitarbeiter die „Küchen- und Wohnzimmerlesungen in der sogenannten Szene“ (I 52) zu observieren. Privilegiertes Beobachtungsobjekt sind die Lesungen eines Schriftstellers, der sich später gleichfalls als IM herausstellt. Einschließlich des „Vorgangs: Reader“ (I 14) waren es „zwanzig Leute, die er bearbeiten mußte, die er notfalls glaubwürdig verändern mußte“ (I 240). Die glaubwürdige Veränderung bezieht sich auf die in den Berichten W.s vorzunehmende schriftliche Reproduktion der von ihm beobachteten Ereignisse. Diese auch als „Desensibilisierungstätigkeit“ (I 17) bezeichnete Praxis ist es, die die Arbeit als Zuträger der Stasi mit seinen nach wie vor bestehenden Ambitionen als Schriftsteller verbindet. Das „Doppelleben“ (I 213), das W. solchermaßen führt, findet eine bildliche Verdichtung in den beiden Papierstapeln auf seinem Schreibtisch: „auf der einen Seite der Platte, links, lagen die wild bekritzelten Zettel mit Entwürfen für seine Gedichte, auf der anderen Seite, sauber geschichtet, das Schreibmaschinenpapier, das für seine Berichte bestimmt war“ (I 197).

Das auf diese Weise gezeichnete - und auf den ersten Blick groteske - Bild vom konspirierenden Poeten, dem Dichter als Denunzianten ist nicht nur von der Wirklichkeit beglaubigt worden6; in ihm spiegelt sich auch die exponierte Situation des Schriftstellers in der DDR als einem Land, das sich von Anfang an und in deutlicher Distanz zur Bundesrepublik als „Staat der Schriftsteller“ (Hans Mayer: Der Turm zu Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt/M. 1993, S. 188) verstanden und seinen Dichtern staatserhaltende Aufgaben zugemutet hat. Die aus der Anwerbetätigkeit des Staatssicherheitsdienstes resultierenden Verwicklungen und Verstrickungen im „Sicherheitsbereich Literatur“ sind mittlerweile von Joachim Walther in einer umfangreichen Publikation untersucht worden. Walther erkennt in der staatlich propagierten „Illusion einer unbedingten Bedeutsamkeit eingreifender und verändernd wirkender Literatur“ diejenige Basis, die allen Texten, die sich literarisch mit der sozialistischen Gesellschaft auseinandersetzten, ein „Mehr an Bedeutung“ (Joachim Walther, a.a.O., S. 13) verlieh. Deshalb wurde der Observierung systemkritischer Schriftsteller und deren Disziplinierung staatstragende Bedeutung beigemessen - ein aus heutiger Sicht maßlos überzogenes Verhalten, denn die gesellschaftliche Wirksamkeit kritischer Literatur hielt sich in engen Grenzen. Mit Blick auf die angeworbenen Schriftsteller war - so Walther - neben niederen Gründen wie Karrieredenken, Neid und Geltungsbedürfnis die weitverbreitete Utopiegläubigkeit ein entscheidender Grund für die Kooperationsbereitschaft mancher Literaten. Diese Zusammenhänge, die hier nur kurz angerissen werden können, lassen die Entscheidung Hilbigs, seinen IM Cambert als einen angehenden Schriftsteller zu entwerfen, keinesfalls abwegig erscheinen.7

Schwerer nachzuvollziehen ist allerdings die Wirklichkeitsversion, die dem Leser durch W. alias Cambert vermittelt wird. Der erzählerische Entschluß, die Gesellschaft aus der Perspektive des konspirativen Schriftstellers zu beleuchten, führt bisweilen zu bizarren Perzeptionen. So wird die unter dem Einfluß von Glasnost und Perestroika veränderte Stimmung im Land vorrangig als ein textuelles Phänomen erkannt. Das „Auftauchen einer Reihe neuer Lyriker“ (I 200) gilt als Indiz für einen sich ankündigenden gesellschaftlichen Umbruch. Reale politische Ereignisse kommen W. und seinem Führungsoffizier Feuerbach dagegen kaum zu Bewußtsein. Als einziges konkretes Ereignis, das eine zeitliche Orientierung im Roman ermöglicht, wird die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar 1988 genannt (I 243). Einen wichtigen Stellenwert besitzen hingegen Verweise auf poststrukturalistische Theoreme, die die Unschärfe bei der Wahrnehmung der Umwelt begründen und die Vorgehensweise beim Verfassen der offiziellen Berichte und privaten Gedichte gleicherweise legitimieren sollen. Die zu „Inoffizieller Literatur“ weiterverarbeiteten Observationsprotokolle faßt W. als „unabschließbare Texte“ auf. „Meiner Meinung nach war man damit sogar ziemlich nahe bei den neuesten Texttheorien, vielleicht stimmte es, daß die Neostrukturalisten das Fragment als den einzig zeitgemäßen Text erkannt hatten?“ (I 287) Die Intention dieser Grenzüberschreitung und Konturverwischung ist klar erkennbar: die Differenz zwischen Realität und Protokoll, oder anders: der Unterschied zwischen Beobachtetem und Beobachter soll getilgt werden, so daß das MfS letztlich dahin wirkt, das Gleichheitsideal des Sozialismus durchzusetzen. In einem Gespräch mit seinem Führungsoffizier äußert W.: „Ziel des Dienstes war es, alle [...] zu Mitarbeitern des Dienstes zu machen, auch wenn dieser Gedanke wahnsinnig klang. Damit alle von allen überwacht werden konnten - das war die Sicherheit, die ihren Namen verdiente.“ (I 75)

Mit dieser kaum ernst zu nehmenden These deutet der Text einen Wirklichkeitsverlust der MfS-Mitarbeiter an, eine aus übersteigerter Utopiegläubigkeit resultierende Derealisierung, die am Beispiel Camberts exemplarisch vorgeführt wird. Es ist ihm beispielsweise unmöglich, die Umstände seiner Anwerbung als eine reale Gesprächssituation zu rekapitulieren, in der er als Anzuwerbender mit einer konkreten Offerte konfrontiert gewesen ist: „Schon während jenes ersten abendlichen Besuches, von dem er sich noch ein ungefähres Bild machen konnte, hatten sie eigentlich nicht mit ihm verhandelt, sondern mit einer Phantasiefigur, die sie sich von ihm in ihren Köpfen zurechtgelegt hatten.“ (I 106) Nachdem er - auf welcher Grundlage auch immer - seine Mitarbeit einmal begonnen hat, verliert für ihn die Sprache ihren Sinn als Bindeglied zur Realität und wird zum Projektionsraum der Intrige: „Da er jetzt die Sätze nicht mehr um ihrer Mitteilung willen aufnahm, sondern weil er einen in einem dunklen Bereich hinter ihnen verborgenen Sinn suchte, [...] war alles Sprechen für ihn nach und nach zu einer Verschwörung geworden.“ (I 130 f.) Die Entkoppelung von wirklicher und konspirativ rekonstruierter Welt läßt schließlich auch keine zeitliche Orientierung mehr zu. W. kann bei der Rückschau auf seine bisherige MfS-Mitarbeit keine chronologische Abfolge der Ereignisse mehr erkennen: „Meine Gedanken grenzten die Zeit aus und waren daher nur bedingt Erinnerungen zu nennen, sie lavierten übergangslos zwischen den Zeitorten (die nicht mehr Zeiträume heißen konnten).“ (I 277)

Alle diese inhaltlichen Aspekte der Entwirklichung finden ihre Entsprechung in der Erzählsituation des Romans, der auf den ersten Blick durch seinen Titel eine subjektive Einheit begründen zu wollen scheint. Eine Analyse der Erzählstimmen lehrt jedoch das Gegenteil. Der erste und der dritte Abschnitt, zusammen etwa die Hälfte des Textes, sind aus der Ich-Perspektive formuliert, währenddessen der Mittelteil des Buches eine personale Erzählung darstellt. Mit dieser doppelten Perspektivierung unterläuft der Text die im Titel antizipierte Identität und schreibt das ambivalente Wirklichkeitsverhältnis des Protagonisten im Wechsel der Erzählsituationen fest.

Hilbigs Roman entfaltet mit seinem inhaltlichen und erzählerischen Programm eine provokante Schilderung des Milieus der informellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Breiten Raum nehmen dabei die Selbsteinschätzungen des Informanten Cambert über seine Tätigkeit ein. Da die subjektive Darstellung des IMs durch keine andere erzählerische Instanz ergänzt wird, erlegt sich der Text eine Zurückhaltung in der Bewertung dieses Milieus auf, die dazu führt, daß alle moralischen Einschätzungen rücksichtslos ausgeblendet werden.8 Ein Problem liegt in der entlastenden Charakterisierung der Stasi als einer Vereinigung „souveräne[r] Ironiker“ (I 200), die vorgeblich die Zeichen der Zeit klar erkannt hätten. Dieser Aussage widerspricht die am Beispiel Camberts dargestellte Desorientierung des MfS. Zusammen mit den Referenzen an poststrukturalistische Theoreme stellt sie eine erkennbar nachträgliche Zutat dar, die weniger die reale Situation vor der Wende als vielmehr die Diskussion zur Zeit der Abfassung des Romans über die Rolle der Stasi kennzeichnet.9 Das Unbehagen W.s, Quittungen zu unterschreiben, weil damit seine Tätigkeit „für die historische Arbeit künftiger Moral-Paranoiker sinnfällig gemacht“ (I 279) werden kann, entspricht in diesem Sinne auch weniger den realen Skrupeln der Stasi zur Zeit ihrer Wirksamkeit in der DDR; in dieser Einschätzung spiegelt sich vielmehr das Bedürfnis des rückblickenden Interpreten, für die schizoide Situation der Zuträger des MfS im nachhinein Erklärungen zu finden.

Eine ganz entgegengesetzte, vom Standpunkt der Opfer aus entworfene Sicht auf das MfS wählt Reinhard Jirgl in seinen Romanen Abschied von den Feinden (1995) und Hundsnächte (1997). Der Staatssicherheitsdienst spielt hier nur an der Peripherie des Geschehens seine verhängnisvolle Rolle. Ein Blick auf die Motive, die Handlungsstrukturen und das Erzählverfahren der Bücher zeigt jedoch, daß eine von Mißtrauen, Amoralität und individueller Verzweiflung geprägte psychische Konstitution, die sich unter den Opfern des MfS ausgebildet hat, minutiös in diesem Erzählen festgehalten wird. Die obsessive, in Digressionen zerfaserte, aber über die Handlung der zwei Romane hinweg thematisch und personal geschlossene Prosa Jirgls entfaltet ein düsteres Panorama vom vielfachen Sterben, Zerfallen und Sich-Auflösen im Ostdeutschland der Nachwendezeit. Erzählerische Ausgangssituation ist das konkurrierende Gegeneinander zweier Brüder, die mit auktorialer Geste ein Bild des jeweils anderen entwerfen und dabei ihr rivalisierendes Verhältnis zu einer von beiden geliebten Frau zu bestimmen suchen, die kurz nach der Wende am Rande einer Kleinstadt ermordet aufgefunden wird.

Der wie sein Bruder namentlich nicht identifizierte Ältere ist Anfang der achtziger Jahre aus der DDR ausgereist, kann sich aber auch nach acht Jahren im Westen von den prägenden Erlebnissen seiner Jugend nicht lösen. Er wird präsentiert als ein von seiner Herkunft Gezeichneter: „Von Abschiednehmen u Scheitern stets wie vom eigenen Schattenwurf umkreist, mit dem unablässigen Zwang, zurückzukehren, in Hinterlassenschaften wühlend, um herauszufinden, was das hätte gewesen sein können: ein Leben.“10 Die biographischen Ursachen für diese deprimierende Bilanz werden auf einer Zugfahrt aufgerollt, die er nach der Wende zurück zu den Orten der mit seinem Bruder gemeinsam verbrachten Jugend in Mecklenburg unternimmt - einer Landschaft, die seit Uwe Johnsons Romanen exemplarische DDR-Provinz verkörpert. Immer wieder treten die Bilder von einem „wasserhellen Februarmorgen im Jahr 1957“ (A 169) vor das rastlos schweifende Bewußtsein. Damals hatten „Männer in dunklen Mänteln aus kratzigem Stoff“ vor den Augen des 4jährigen die Mutter brutal zusammengeschlagen und in eine Klinik zwangseingewiesen. Die elternlos zurückbleibenden Brüder - der Vater hat die Familie bereits seit Jahren verlassen - kommen ins Heim und später zu Pflegeeltern in eine Kleinstadt im Norden der DDR. Daß sich im Rückblick auf die Beschaulichkeit eines Weihnachtsabends, den die Adoptiveltern für ihre Pflegekinder arrangieren, im Bewußtsein des Älteren wiederum nur die Schreckensbilder der Verhaftung der Mutter durch die Stasi einstellen, belegt die existentielle Gewalt, mit der dieses Trauma sein Leben prägt.

Während sich der jüngere Bruder später am „Rand des Lebens, im schattenreichen Abseits, in der schützenden Vergeblichkeit“ (A 183) einrichten kann, verläßt der mit einer „Heftigkeit der Sensibilität“ (A 193) ausgestattete Ältere die DDR und ruft dem Land und seinem Bruder den Nietzscheschen Fluch vom „Letzten Menschen“ (A 196) nach. Wie wenig jedoch die äußerliche Distanzierung seine einmal erworbene psychische Konstitution zu beeinflussen vermochte, wird deutlich, als auf der Zugfahrt nach Mecklenburg plötzlich ein Abteilkellner den Wagen betritt. „Kurz verspürte er den Impuls, aufzuspringen & nach seinem Ausweis od der Fahrkarte greifen zu müssen (:die Reflexbewegung derjenigen, die vom staatlichen Terror trainiert, dessen Allgegenwärtigkeit & allzeit mögliches Einfordern von Gehorsam & Sichbeugen unter diese Autorität, u sei sie vertreten durch nen dummen Bengel in Uniform, noch durch den letzten Lemur, als wirksame Sonde im Innersten Ich für die Zeit des Lebenmüssens implantiert, erhalten bleiben muß [...]).“ (A 173)

Nicht nur die motivischen und handlungsbestimmenden Faktoren verdeutlichen die paradigmatische Orientierung der Prosa Jirgls am Stasi-Syndrom; auch die Erzähltechnik hat sich den vom Überwachungsstaat geschaffenen Realitäten angepaßt. Es handelt sich bei der Präsentation der besprochenen Erinnerungen und Bewußtseinsinhalte nicht um ein freies Sprechen - oder Denken - des älteren Bruders, sondern um eine Einvernahme aus der fremden Perspektive des Jüngeren, der sich kurz nach der Ausreise seines Bruders zur Stasimitarbeit verpflichtet hat. Der erzählerische Zugriff auf das fremde Leben erfolgt auf zweierlei Ebenen. Einmal wird die Oberflächenhandlung der Zugfahrt gesteuert von den narrativen Inventionen des Jüngeren: „Ich lasse ihn den Izigen Reisenden in diesem Abteil sein“ (A 17) - so befindet die Erzählerstimme und entläßt ihr Beobachtungsobjekt bis zum Ende der Fahrt nicht aus ihrer Observanz. Auf eine weitere, tiefer in die Persönlichkeit des Bruders eingreifende Weise sind jedoch auch die Bewußtseinssplitter, die während der Zugfahrt erinnert werden, Hervorbringungen des Jüngeren. Die Verhaftung der Mutter und die sich anschließende Verhöhnung der zurückbleibenden „beiden Bälger“ durch die MfS-Leute wird nicht als ein individuell erlebtes Trauma des Älteren dargestellt, vielmehr wird ihm die traumatische Valenz dieser Erfahrung erst durch ein Diktum des Bruders zugewiesen: „Diese Sätze lasse ich in seiner Erinnerung als niemals verklingende Echowelle stehn.“ (A 49) Für die Zeit unmittelbar vor der Ausreise vermerkt die Erzählstimme des Jüngeren: „ich bin ihm, heimlich, manches Mal sehr weit gefolgt auf seinen Wegen durch Gedanken- und Erlebnisstätten [...].“ (A 192)

Der Roman vermeidet allerdings konsequent jede personale Identifizierung mit einer fest definierten Täter- und Opferrolle. Denn auch der ältere Bruder nimmt die Erzählerfunktion wahr mit dem erklärten Vorsatz, den Bruder in seiner Darstellung zu vereinnahmen: „Und so werde ich alles in ihm [...] verderben und ihn zu I Produkt meiner Bilder machen, abhängig in Vollkommenheit von meinem Wissen.“ (A 35) Die nach der Ausreise einsetzende Spitzeltätigkeit des Jüngeren wird in diesem Sinne erörtert in einer Erzählpassage des Älteren, der seine Ausführungen mit der behauptenden Feststellung schließt: „Ich weiß: er unterschrieb das Papier.“ (A 153) Für den Leser bleibt allerdings unklar, ob es sich bei dieser IM-Verpflichtung um einen realen Sachverhalt oder um eine auf Verdachtsmomente gegründete Vermutung handelt.

Durch dieses Erzählverfahren zweier einander überkreuzender Perspektivierungen gelingt es Jirgl, eine Atmosphäre der gegenseitigen Verdächtigung aufzubauen, in der der Überwachungsmechanismus des Staatssicherheitsdienstes im Habitus der Opfer reproduziert wird. Zur Darstellung gelangt nicht ein subjektives Erlebnis oder eine individuell gemachte Erfahrung, sondern immer nur der Nachvollzug dieses Erlebnisses oder dieser Erfahrung aus der beobachtenden oder imaginierenden Perspektive des mißtrauisch-aufmerksamen anderen.

Die Ausrichtung des Romans an der Geheimdienstpraxis des Staatssicherheitsapparates zeigt sich weiterhin an einer thematischen Äquivalenz. Das Selbstverständnis des Staatssicherheitsdienstes definiert die Hauptaufgabe des MfS dahin, „der Partei rechtzeitig strategische und taktische Informationen über den Gegner zur Verfügung zu stellen, den Feind in seinen Ausgangsbasen im Operationsgebiet aufzuklären, zu stören und zu bekämpfen“.11 Ein Reflex dieser Grundmaxime findet sich wieder im einzigen positiven Wertbegriff, der sich in der apokalyptischen Welt von Jirgls Protagonisten noch erhalten hat: einem obsessiven Zwang zum Wissen-Wollen, das eine Verfügung über den anderen garantieren und damit die eigene Identität stützen soll. Dieses Verlangen spricht sich aus in einem Bekenntnis, das für die Motivation der Erinnerungen des Älteren entscheidend ist: „Ich wollte durch mein Sprechen sein Wissen über die I Sache, die seinerzeit geschehen war, bekommen. Ich werde es bekommen.“ (A 40) Wie in vielen anderen Fällen bleibt auch hier ungewiß, ob mit dieser Sache der Tod der Frau kurz nach der Wende oder eine der verhängnisvollen Episoden aus der gemeinsamen Kindheit gemeint ist.

Die tendenziell wahnhafte Dimension des Wissens, das der ältere Bruder über seine Vergangenheit erlangen will, legt der Umgang mit Fotografien bloß, die er auf der Zugfahrt betrachtet. Es sind weniger die „richtig sichtbaren Bildrechtecke“ (A 139), die seine Aufmerksamkeit fesseln, vielmehr soll ihm in Abstraktion davon seine Phantasie das „missing link“ (A 141) zur Wirklichkeit liefern. „Diese Bilder würden mir ein anderes Wissen geben als jenes, das hinter den Wiederholungen alles schon tausendfach Gesehenen, tausendfach Gehörten längst nicht mehr wahrgenommen werden kann.“ (A 142) Als sich dieses andere Wissen jedoch auch in der Begegnung mit dem Bruder nicht erlangen läßt, tötet er ihn. Das Bewußtsein dieser Tat stellt sich ihm wiederum im Paradigma des Schlüsselwortes ein: „Das Wissen I Mörder zu sein - griff nach ihm.“ (A 305) In dieser imaginierten Mord-Szene, die im Roman Hundsnächte mehrfach von den Erzählstimmen aufgegriffen wird,12 realisiert sich der zerstörerische Impuls des Wissen-Wollens, den der Ältere in einem bei der Ausreise aus der DDR zurückgelassenen Tagebuch bereits vorformuliert hatte: „In einem Land wie diesem [...] kann der Zweite Hunger des Menschen - nach seinem Ersten Hunger, dem Hunger nach Brot, gilt der Zweite dem Hunger nach Wissen - nur Sättigung finden im Kannibalismus. Fehlendes eigenes Leben muß ersetzt werden durch fremdes Leben [...].“ (A 195)

In Analogie zu den Praktiken des MfS zeichnet Jirgls Romanprosa nach, wie selbst die Opfer des Regimes ihre individuelle Persönlichkeitsstruktur nach den Maßgaben des Systems ausbilden. Das zeigt sich auf der Handlungsebene in der durch die Stasi traumatisierten Kindheit, unter erzählperspektivischer Sicht in der Adaption der Überwachungsperspektive durch die Überwachten und in der thematischen Forderung nach einer umfassenden Informationsbeschaffung. Kennzeichnend für die Figuren der Romane ist die Fixierung ihrer Persönlichkeit auf die einmal gemachten Erfahrungen, die sich gegen jede spätere Korrektur sperren. Die „Bilder der Frühe [...] stellen [...] sich neben das Geschehen einer Gegenwart & legen ihre Schatten aus“ (A 174). Der deterministische Grundzug dieser Konzeption wird deutlich darin, daß diese Bilder im Kontext ihre individuelle Färbung verlieren. Sie gelten als anthropologisch beispielhaft. Was in ihnen zum Vorschein kommt, ist eine „uralt=vertraute Kategorie von Monstrositäten“ (A 196).

Es ist unter diesen Voraussetzungen nicht verwunderlich, daß die brüderlichen Erzählstimmen des Romans die historischen Ereignisse nach dem 9. November 1989 nicht als neue Chance begreifen können. „Die eine Mauer ist verschwunden - die Grenzen rücken wieder einmal auf. Und Landschaften für anderen Tod breiten sich weithin aus.“ (A 12) Lediglich als eine „Zeichenwende“ (H 99) wird die Entmachtung der SED-Elite erfahren, die an der dauerhaften Beschädigung des „innersten Ich“ nichts zu ändern vermag. Die Gültigkeit der Prägung durch die frühen Bilder hält sich durch bis in den letzten Satz der Hundsnächte, in dem der Katarakt der Katastrophen, der den Protagonisten mit sich hinweggerissen hat, im Tod zum Stillstand kommt. „Den Rücken im Gras, spürend den feinen Sand, löse ich den Blick - entfesselt befreit losgelassen und hinaufgeschleudert dorthin zu jenem Gewölbe wo lichtdurchflutet das niemals zuvor gesehene das unendliche Blau geschieht.“ (H 520)

Eine bemerkenswerte Publikation zum Thema der Staatssicherheit stellt der Roman Ein weites Feld von Günter Grass dar. Das vor seinem Erscheinen als der Wenderoman avisierte Buch ist von der Kritik nahezu einhellig abgelehnt worden.13 Zweifellos aber gehört es zu den wichtigsten Werken der neunziger Jahre, die das Phänomen des Staatssicherheitsdienstes erzählerisch darstellen und interpretieren. Die Omnipräsenz des MfS ist im „Weiten Feld“ durch die Figurenkonstellation vorgegeben. Hoftaller, eine in Weiterführung von Hans-Joachim Schädlichs Tallhover gewonnene Figur, ist hauptberuflicher Mitarbeiter der Stasi und dem Titelhelden Fonty als „Tagundnachtschatten“14 an die Seite gestellt. Als einziger westdeutscher Autor der hier besprochenen Werke wählt Grass eine in mehrerer Hinsicht mittelbare Technik, um den Staatssicherheitsdienst erzählerisch in den Blick zu rücken. Diese Mittelbarkeit der Darstellung ergibt sich einmal durch den personalen Rückgriff auf Schädlichs Figur des Tallhover, d.h. auf die Konzeption eines ursprünglich ostdeutschen Autors, die die Annäherung an ein spezifisches Ost-Thema legitimieren soll. Diese Rückversicherung steht im deutlichen Kontrast zur Ich-Perspektivierung, die Hilbig und Jirgl in ihren Büchern realisieren. Ein zweites Indiz für die Mittelbarkeit, mit der Grass den Staatssicherheitsdienst erzählerisch thematisiert, ist die historische Einordnung, die der Roman vornimmt. Denn das MfS und sein Repräsentant Hoftaller werden nicht als eine Institution der DDR aufgefaßt, deren Mechanismus im gesellschaftlichen Kontext geschildert und verständlich gemacht werden muß. Vielmehr spannt sich der historische Bezugsrahmen des Romans „vom Vormärz zu den Montagsdemonstrationen“ (WF 26). Damit wird eine Relativierung vorgenommen, die den DDR-Geheimdienst nicht als ein spezifisches historisches Phänomen, sondern als Wiederkehr eines systemüberdauernden Typus kennzeichnen soll.

Der Wenderoman von Grass, der Elemente des pikaresken Romans mit denen der Schlüsselliteratur verbindet, entwirft mit der Konstruktion von „symbolhafte[n] Parallelereignis[sen]“ (WF 763) einen Kontext universeller Ähnlichkeiten, der den geschilderten Zeitraum zwischen November 1989 und Ende 1991 transzendieren soll. Der geschichtliche Relativismus dieser Kontextualisierung hat eine doppelte Funktion. Einerseits soll die Gegenwartskritik, die der Roman artikuliert, durch den Verweis auf äquivalente historische Konstellationen verstärkt werden. Das geschieht, wenn die Wiedervereinigung direkt mit dem Prozeß der ersten Reichseinigung verglichen wird: „War siebzig-einundsiebzig nicht anders. Deutsche Einheit ist immer die Einheit der Raffkes und Schofelinskis.“ (WF 411, vgl. 328, 529) Eine genau gegenläufige Funktion haben die Parallelerzählungen jedoch in den Stasi-Passagen. Hier soll der augenzwinkernde Verweis auf parallele Praktiken der staatlichen Observierung zu anderen historischen Zeiten die Kritik vom DDR-Geheimdienst abwehren: „Der Schnüffelei war kein Ende gesetzt. Hält sich bis heutzutage. Ist wohl auf Ewigkeit abonniert. Respekt Tallhover! Respekt Hoftaller!“ (WF 42)

Diese funktional doppelte Besetzung der Parallelisierungen wird in ihrer immanenten Widersprüchlichkeit durchsichtig, wenn in einer Situation beide Motive gleichzeitig zum Tragen kommen. Das geschieht, als Fonty und Hoftaller nach einem Spaziergang durch den Tiergarten am Landwehrkanal auf eine Gedenktafel treffen, „auf der zu lesen stand, daß am Abend des 15. Januar 1919 die Sozialistin Rosa Luxemburg von Offizieren und Soldaten der Garde-Kavallerie-Division an dieser Stelle erschlagen und in den Kanal geworfen worden sei“ (WF 396). Hoftaller liefert die Hintergründe über die Anbringung der Gedenkplatte nach, die einst von der Stasi vermittelt wurde, und Fonty kommentiert: „Die Dienste haben schon immer ganze Arbeit geleistet. Was die Tallhovers beginnen, setzen die Hoftallers fort, und sei es, indem die Mörder von einst ihren Opfern heutzutage Denkmäler stiften. Neunzehnneunzehn, übrigens unser Geburtsjahr; jedenfalls ist mir so, als seien wir dabeigewesen.“ (WF 397)

Die Irritation, die von dieser Szene ausgeht, liegt im Kontrast zwischen der parteilichen Anklage, mit der sich Fonty gegen die nachträgliche Verhöhnung der Opfer durch ihre Peiniger wendet, und der im Plauderton nachgeklappten Beschwörung einer Gemeinsamkeit, die ihn mit Hoftaller, der Personifikation der „Dienste“, als Zeitzeugen einvernehmlich zusammenschließt. Die moralische Doppelbödigkeit dieser Konstruktion, die die Sache verurteilt, aber die Person entlastet, macht es unmöglich, die implizierte Zeitkritik und die Rehabilitierung des Überwachungsapparates von einem Standpunkt aus nachzuvollziehen.

Ihren sinnfälligen figürlichen Ausdruck findet die Analogiekonzeption des Romans in der Kunstfigur des Protagonisten Theo Wuttke. Fonty, wie er auch genannt wird, wurde „am vorletzten Tag des Jahres 1919 geboren“ (WF 9), also genau am hundertsten Geburtstag Fontanes, und ist bis in die entlegensten Details dem großen Vorbild nachgestaltet. Nicht nur die Physiognomie sieht „wie abgekupfert aus“ (WF 204), Fonty laboriert auch an derselben „Nervenschwäche“ (WF 144) wie sein Ahne, seine Handschrift „schrieb [...] jene Schrift weiter“ (WF 246), die Personen seiner Familie ähneln denen Fontanes bis hinein in die mundartlichen Besonderheiten. Als zeitversetztes Double hat Fonty das Werk des „Unvergänglichen“ derart verinnerlicht, „daß er in dieser und jener Plauderrunde als Urheber auftreten konnte“ (WF 9). Seine Gegenwart erlebt er im Spiegel der Fontaneschen Gesellschaft. Den „Poggenpuhlsche[n] Salon“ (WF 770) nennt er sein Wohnzimmer, über die Siegessäule kann er plaudern, als hätte er deren „Enthüllung [...] miterlebt“ (WF 21). Selbst sein einstiger Seitensprung - von Hoftaller minutiös protokolliert - hat in Analogie zu Fontanes Dresdner Affaire stattgefunden.

Nach dem 3. Oktober 1990 arbeitet er, der ehemalige Aktenbote im Haus der Ministerien, als freier Mitarbeiter der Treuhandanstalt und erhält die Aufforderung, die „baugeschichtlichen Hintergründe“ des Hauses zu beschreiben und dabei den Gebäudekomplex Ecke Leipziger/Otto-Grotewohl-Straße „geschichtlich erlebbar [zu] machen“ (WF 534f.). Fonty, der in seinen geschichtlichen Ansichten zu „zeitraffende[n] Verkürzungen“ (WF 498) und „weiträumigen Zusammenfassungen“ (WF 545) neigt, kommt diesem Auftrag nach, indem er die wechselvolle Geschichte des Hauses, das als Luftfahrtministerium Görings errichtet wurde und nun als eine Zentrale für die Nachlaßverwaltung des SED-Staates dient, bündelt in einer Beschreibung des hauseigenen Paternosterfahrstuhls, der als „Symbol der ewigen Wiederkehr“ den ganzen Roman durchzieht (WF 526).15

Die Arbeit im Ministerium ist es auch, die Fonty zusammengeführt hat mit dem ihm seit Jahrzehnten und über alle Systeme hinweg zugeteilten Beschatter Hoftaller. Das Verhältnis, das sich im Laufe der Jahre zwischen beiden herausgebildet hat, kann nur als einvernehmlich bezeichnet werden. Hoftaller ist für Fonty ein „altvertrauter Kumpan“ (WF 221), bisweilen sogar „der mir lebenslang zugeordnete Schutzengel“ (WF 561). Nach der Maueröffnung erkunden die beiden gemeinschaftlich das Neuland Westberlin - vom McDonald’s-Restaurant bis zum Tiergarten. Zum siebzigsten Geburtstag hat Fonty seinem Beschatter als tiefsinnig gemeinte Allegorie auf ihr Verhältnis ein Puzzlespiel geschenkt, natürlich „ein original Westprodukt“ (WF 39). Auf einer symbolisch aufgeladenen Ruderpartie kurz vor dem 3. Oktober 1990 kommt es zu einem „Platzwechsel zweier alter Männer in einem schwankenden Boot“ (WF 407). Opfer und Täter tauschen im Angesicht der Historie ihre Plätze. Die letzte Stufe der Vertraulichkeit ist erreicht, als Fonty seinen zweiten Versuch einer Englandreise abbricht. Hoftaller schleppt ihn huckepack wieder nach Hause, um ihn dort häuslich zu pflegen. „Er gehörte zur Familie.“ (WF 692)

Die enge persönliche Beziehung wird noch ergänzt durch eine intellektuelle Partnerschaft, die Beschatter und Beschatteten aneinander bindet. Eine am Neuruppiner Fontanedenkmal gehaltene Rede Fontys, der als Kulturbundmitglied auch literarisch tätig ist, gipfelt in dem Ausruf: „Was wären wir ohne Zensur, ohne Aufsicht? Sie, mein auffällig unauffälliger Herr, sind schlechterdings unser gutes Gewissen.“ (WF 596) Die literarisch stimulierende Rolle des MfS, die sich so schon bei Hilbig findet, unterstreicht eine Episode, in der eine Begegnung Fontys mit Uwe Johnson gestaltet ist. Nachdem Fonty ein launiges Porträt des bereits 1959 freiwillig exilierten Autors entworfen hat, artikuliert er seinen Schmerz über den Tod des Schriftstellers, „der mich einsam gemacht hat“ (WF 608). Betroffenheit äußert aber auch Hoftaller: „Dieses schwierige Talent hätte sich bei uns abklären und entwickeln müssen, nicht drüben, allein auf sich gestellt und dem Markt überlassen. Wir haben uns mangelnde Fürsorge vorzuwerfen.“ (WF 609)

Es ist nicht uninteressant, diesen selbstkritischen Nachruf mit der tatsächlichen Reaktion des MfS auf diesen Todesfall zu vergleichen, wie sie in der Stasi-Akte Johnsons greifbar wird. Das umfangreiche Dossier zu diesem Schriftsteller wurde geschlossen mit der kopierten Meldung „Uwe Johnson gestorben“, entnommen dem „Tagesspiegel“ vom 14. März 1984. Auf dem Rand des Blattes vermerkte ein Offizier handschriftlich: „Ja, wenn er sich verbessern kann.“ (Vgl. Joachim Walther, a.a.O., S. 24) Der menschenverachtende und makabre Zynismus, der sich in diesem Kommentar über den nun dem Zugriff der Stasi endgültig entrückten Schriftsteller ausspricht - und damit die reale Stellung des MfS zu den Observierten offenlegt -, steht in scharfem Kontrast zur fürsorglichen Anteilnahme, die Grass dem MfS-Mitarbeiter Hoftaller in den Mund legt. Es sind diese, den ganzen Roman durchziehenden Verzeichnungen, die das Faktotum Hoftaller zu einer „skandalösen Figur“ (Iris Radisch) machen und die dargestellte Harmonie der Täter-Opfer-Gemeinschaft unglaubwürdig erscheinen lassen.

Der Roman Ein weites Feld von Günter Grass, der sich von seinem Handlungsverlauf als eine Chronik der Wendezeit versteht, besticht einerseits durch eine Fülle der geschilderten Szenen und sympathetisch dargestellten Details, die dem Buch einen unbestreitbaren Unterhaltungswert verleihen. Als „letztes Westpaket“ (Christoph Dieckmann) ist es deshalb gerade im Osten dankbar aufgenommen und zu einem Bestseller geworden. Die offensive Parteinahme für das „Kleineleutemilieu“ (WF 748) der ehemaligen DDR und ihre Lebenswelt, die auch nach der Wende noch viele „sozialistische Devotionalien“ (WF 716) einschließt, hat Grass allerdings veranlaßt, auch die Stasi als integralen Bestandteil dieser Welt aufzufassen und als solchen zu verteidigen. Neben den sachlichen Irrtümern, die dieser Darstellung zugrunde liegen, zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Konzepts auch in der Doppelfunktion der historischen Parallelisierungen als Apologie und Anklage.

Beim Vergleich der untersuchten Romane von Hilbig, Jirgl und Grass sticht damit der Kontrast ins Auge, mit dem das MfS unter Ost- und Westperspektive erscheint. Wo die Romane von Hilbig und Jirgl aus einer subjektiv gefärbten Binnenperspektive die Situation der Involvierten nachzeichnen, hebt das Buch von Grass ab auf eine allegorische Konstellation, die von außen dargeboten wird und ein von Spannungen weitgehend freies Miteinander schildert. Im Unterschied zu dieser harmonisierenden Darstellung entwerfen die Texte von Hilbig und Jirgl ein konfliktträchtiges Szenario, das bei Jirgl in die Vernichtung führt und bei Hilbig den Protagonisten einer perfekten Derealisierung überantwortet. Beide Bücher thematisieren existentielle Grenzsituationen, denen sich sowohl die Opfer der Stasi als auch die Täter ausgesetzt sehen. Die Prosa von Grass, sprachlich orientiert am Plauderton der Briefe Fontanes, entwickelt dagegen eine Vision der Normalität, in der Spitzel und Bespitzelte ironisch aufeinander fixiert sind und angeblich erst durch die Diskussion nach der Wende aus ihrem einvernehmlichen Miteinander herausgerissen wurden. Die konträren Darstellungsformen der Romane von Grass, Hilbig und Jirgl resultieren offensichtlich aus unterschiedlichen Einschätzungen des MfS-Milieus. Es ist nicht verwunderlich, daß bei der Gestaltung dieses Komplexes auch fünf Jahre nach der Wende die Grenze immer noch zwischen Ost und West verläuft. Die biographischen Erfahrungen, die man in der DDR machen konnte, unterscheiden sich in dieser Hinsicht so stark von denen der alten Bundesrepublik, daß - auch wenn ein gemeinsames Thema gefunden ist - die literarische Umsetzung doch ganz gegenläufige Formen annehmen muß.

Formen der Vergangenheitsbewältigung

Falls es überhaupt richtig ist, daß die Literatur der neunziger Jahre im allgemeinen als „gesellschaftsfern“16 gelten kann, so trifft dies doch mit Sicherheit nicht zu auf eine Gruppe von Texten, die sich an den zeitgeschichtlichen Erfahrungen des subjektiv erlebenden Ich orientieren. Genau wie der biographische Stoff, so läßt auch der literarische Status der Texte im Bereich zwischen Autobiographie und autobiographischem Roman viele Gestaltungsmöglichkeiten offen. Das zeigt sich exemplarisch an vier Beispielen, an Hand derer dargelegt werden soll, wie individuelle lebensgeschichtliche Erfahrungen in der Literatur der neunziger Jahre aufgegriffen und verarbeitet werden. Für die Analyse stellt sich dabei einerseits die Frage, welche Aspekte der Gesellschaft bei einer Bestandsaufnahme des eigenen Ich jeweils mit thematisiert werden; andererseits ist zu untersuchen, mit welchen literarischen Mitteln die Verflechtung von privatem Erleben und Zeitgeschichte erreicht wird. Zu fragen sein wird auch, ob und inwiefern die Herkunft der Autoren aus dem Osten bzw. Westen Deutschlands Einfluß auf die Thematisierung und Darstellung autobiographischer Erinnerung hat.

Dem Anspruch nach einer umfassenden und reflektierten Durchdringung der Vergangenheit ist Günter de Bruyns Lebensbericht Vierzig Jahre (1996) in einem Maße verpflichtet, das ihn von den subjektiven Zeitschilderungen anderer Autoren deutlich unterscheidet. De Bruyn führt in diesem Buch die autobiographische Darstellung seines Lebens fort, die er 1992 begonnen hat. Während allerdings die in der Zwischenbilanz geschilderten Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend bis 1949 noch in der letzten Zeit der DDR konzipiert und zum großen Teil auch niedergeschrieben wurden,17 ist der Bericht Vierzig Jahre ein geistiges Produkt der Nachwendezeit. Er stellt die erste aus einer gewissen Distanz heraus geschriebene persönliche Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, Entwicklungen und Deformationen der DDR-Gesellschaft dar.18 Unverändert geblieben ist de Bruyns Anspruch von einem „Auskunftgeben, ohne Verhüllung durch Fiktion“ (Z 7).

Die Voraussetzungen seines autobiographischen Erzählens hat de Bruyn reflektiert in Vorlesungen, die er im Dezember 1993 an der Wiener Universität gehalten hat. Der zentrale Antrieb seines Schreibens liegt für ihn danach im „Versuch, mich über mich selbst aufzuklären“, was ihm in der Rückschau auf seine Erlebnisse und Erfahrungen „ein zweites Leben beschert“. Unmittelbar mit diesem privaten Motiv verbunden ist für de Bruyn jedoch eine Verantwortung, der sich „der Chronist im Schreiber“19 verpflichtet sehen muß, indem er seine persönlichen Erfahrungen vor dem Hintergrund der Frage nach der historischen Wahrheit zu bewerten hat. Diese selbstkritische Herausforderung ist in de Bruyns Bericht über die vierzig Jahre DDR durchlaufend präsent. Sie führt zu einer Schonungslosigkeit der Selbstbefragung, die dem Text in einzelnen Abschnitten etwas Selbstquälerisches gibt - und gerade dadurch seinen Rang als Zeitzeugnis belegt.

Spannungsgeladen wird die Retrospektive vor allem deshalb, weil das Verhältnis de Bruyns zu dem Staat, der 1949 der seine wurde, von Anfang an ein kritisches war. Der Lebensbericht hat deshalb unverkennbar die Züge eines Blicks zurück im Zorn, der gelegentlich auch in Sarkasmus umschlägt. Bereits der Schilderung von der Gründung der DDR 1949 fehlt jede Bemäntelung der von anderen oft verklärten „edlen Anfänge des sozialistischen deutschen Staates“.20 De Bruyn hält fest, daß „das Diktatorische mitsamt seinem Privilegienunwesen von Anfang an wirksam gewesen“ (VJ 233) ist. Den Bau der Mauer hat er mit „Wut und Verzweiflung“ (VJ 106) miterlebt - und dennoch erfährt er in seinen Träumen die Mauer immer als das Hindernis, „das die Rückkehr in die Heimat versperrt. Auf unerklärliche Weise habe ich die Mauer überwinden können, bin nun allein ohne Geld in der Fremde und weiß, daß eine Rückkehr unmöglich ist.“ (VJ 108)21 Dieser Traum deutet einen der Gründe an, die ihn zum Ausharren in der DDR bewogen haben. Die „Bodenhaftung“ (VJ 261) wurde jedoch ergänzt durch ein Gefühl der persönlichen Verantwortung - besonders gegenüber seiner Mutter. Bei jeder Rückkehr von einer Westreise empfand er deshalb eine „Genugtuung, nicht pflichtvergessen gewesen zu sein“ (VJ 129). Doch läßt de Bruyn keinen Zweifel daran, daß sein Ausharren von Anfang an mit Kompromissen und einem Anpassungsdruck an die politischen Verhältnisse verbunden war. Beispielsweise verlangte seine Anstellung als Bibliothekar Anfang der fünfziger Jahre von ihm die Mitarbeit in einer sogenannten Bestandskommission, die unerwünschte Literatur aus den Bibliotheken auszusondern hatte. Sei sarkastisch nennt - konnten das Vernichtungsprojekt weder bremsen noch korrigieren und sind für ihn fortdauernd „ein Grund zur Beschämung“ (VJ 35).

In den späteren Jahren als freier Autor ist das Abhängigkeitsverhältnis subtiler geworden. Ein letztes Mal bekommt er die „Methode der Mächtigen, Kritik an ihnen durch Bindung an sie zu verhindern“ (VJ 252), im Sommer 1989 zu spüren. Ihm wird die Verleihung des Nationalpreises erster Klasse angetragen, was de Bruyn jedoch ablehnt. Allerdings wird diese Demonstration seiner Unabhängigkeit von den Gunstbeweisen des SED-Staates durch die Auflösungserscheinungen der staatlichen Macht kurze Zeit später überholt, „so daß meine Geste, die Halbheiten, Feigheiten und Versäumnisse von Jahrzehnten gutmachen sollte, ins Leere ging“ (VJ 253).

Im möglichen Spektrum zwischen Anerkennung oder Verleugnung des Einflusses der politischen auf die private Sphäre bezieht de Bruyn eine extreme Position. Die Erkenntnis einer Verquickung von privater und öffentlich-politischer Existenz führt bei ihm zu einer schonungslosen Auseinandersetzung mit den Umständen und Zwängen seiner Existenz als Schriftsteller in der DDR. Um den für ihn verbindlichen Zusammenhang zwischen dem Chronisten seiner Selbst und dem der Zeitläufte deutlich zu machen, formuliert de Bruyn ein fiktives Negativbeispiel, das fünf Jahre später literarisch realisiert werden wird: „Gesetzt den Fall, ein Deutscher, der in den zwölf bösen Hitlerjahren Kind gewesen ist, wäre wohlbehütet, von Politik und Krieg ganz abgeschottet, in einem abgeschiedenen Winkel aufgewachsen und würde im Alter nichts als diese von allem Schrecklichen unberührte Kindheit wirklichkeitsgetreu beschreiben: Es entstünde, trotz aller individuellen Wahrheit, doch ein falsches Bild der Zeit. Dieses völlig unpolitische Buch würde eine politische Aussage haben, die nämlich, daß es so schlimm im Dritten Reich doch nicht war.“22

Martin Walsers Erzählwerk Ein springender Brunnen (1998) ist ein solches Buch. Von seinem Titel her als Roman ausgewiesen, hält es die erzähltechnische Unterscheidung zwischen dem Erzähler und dem jugendlichen Protagonisten Johann - bis auf eine bezeichnende und zu untersuchende Ausnahme - durchgängig aufrecht. Dennoch fällt es nicht schwer, in den Schilderungen einer Jugend im Dritten Reich die Transposition biographischer Erlebnisse von Walser selbst wiederzufinden. Das Geburtsjahr 1927, die lokale Bindung an die Bodenseegemeinde Wasserburg und die familiäre Situation des Protagonisten legen nahe, daß Walser hier eigene Jugenderlebnisse zur Grundlage des Erzählens gemacht hat.

Die Teile des Romans fokussieren drei aus der Jugend des Protagonisten Johann herausgelöste Zeitabschnitte. Die erzählte Zeit des ersten Teils setzt ein im Herbst 1932 und endet mit Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933. Der zweite Teil umfaßt einige Wochen im April 1938 nach der Volksabstimmung über den ,Anschluß‘ Österreichs an das Deutsche Reich, während der letzte Teil im Herbst 1944 beginnt, und - nach einem internen Rückblick auf das Frühjahr 1944 - nach der militärischen Niederlage Hitlerdeutschlands im Sommer 1945 endet. Damit umgreift der Roman wie eine Klammer exakt die zwölf Jahre dauernde Naziherrschaft in Deutschland. Die Geschehnisse der unmittelbaren Vorgeschichte und des gewaltsamen Endes der Hitlerdiktatur werden jeweils über eine breitere Zeitspanne hin verfolgt, während die inneren Verhältnisse der Periode im mittleren Teil des Romans in der Konzentration auf etwa drei Wochen des Jahres 1938 zur Darstellung kommen. Dennoch wäre es völlig verfehlt, den Charakter der Zeit des Nationalsozialismus im Sinne einer politischen Ausnahmesituation für das erzählerische Thema des Romans zu halten. Ganz im Gegenteil hat man den Eindruck, daß Walser die Perspektive eines Jugendlichen wählt, um zu veranschaulichen, wie unbefangen, naiv und politisch ahnungslos diese Zeit erlebt werden konnte.

Im Mittelpunkt der Handlung steht der Kosmos des Bodenseedorfes, das aus der Sicht des pubertierenden Jugendlichen zum „Inbegriff der Menschheit“23 erhoben wird. Nachrichtenstatus erlangen in dieser Umgebung nicht die Informationen über die Umwälzungen im Reich; als viel entscheidenderer „Nachrichtenquell“ gilt eine Bedienstete, die in den „Villen der Zugezogenen“ (B 13) putzt und durch ihren weitergetragenen Klatsch das dörfliche Universum feiner zu differenzieren erlaubt. Prägenden Einfluß auf Johann erlangen die Stammtischgespräche im elterlichen Gasthaus. Hier „erfuhr er jedesmal ganz genau, was alles in Wasserburg besser war als sonst in der Welt. [...] Johann war dann immer richtig froh, gerade in dem Dorf leben zu können.“ (B 215, Hervorhebung U.K.) Für seine soziale Entwicklung ist auch das familiäre Umfeld von Wichtigkeit. Der Vater, der am 3. Januar 1938 stirbt, gilt als Schöngeist und Phantast, der „halb aus Krankheit, halb aus anderer Ungeeignetheit, immer wieder durch Katastrophen produzierende Ideen Geschäft und Familie einem vorhersehbaren Zusammenbruch entgegentrieb“ (B 18). Am 30. Januar 1933 gründet er eine „theosophisch gesinnte Gemeinde“ (B 110), während draußen Motorradkolonnen durchs Dorf ziehen und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verkünden. Die Mutter als der lebenspraktische Gegenpol „kämpfte Tag und Nacht dafür, daß die Familie nicht unterging“ (B 18). Pragmatischer Opportunismus veranlaßt sie, in die NSDAP einzutreten. So kann sie in ihrem Gasthof die Siegesfeier der Nationalsozialisten ausrüsten, aber sie „hatte das Parteiabzeichen, das Herr Minn an Dreikönig ins Haus gebracht hatte, noch nie getragen. Auch heute nicht.“ (B 115)

Der Hang zum Opportunismus und Rückzug in die Privatwelt kennzeichnet unter diesen familiären Umständen auch Johanns Verhältnis zu seiner Umgebung. Als der Clown eines österreichischen Wanderzirkus, dem er lautstark applaudiert hat, wegen seiner ironischen Kommentare zum Anschluß ÿsterreichs von den Nazis brutal zusammengeschlagen wird, gesteht sich Johann unter dem Eindruck der Ausfälle seines Lehrers ein, „daß er den Dummen August unterschätzt hatte. Daß der so gefährlich war, hatte er nicht bemerkt.“ (B 173) Gegenüber der von ihm bewunderten Zirkustänzerin Anita, die darüber entsetzt ist, „wie die den zugerichtet hätten in der letzten Nacht, diese Schufte“ (B 194), gibt sich jedoch auch Johann empört: „Ja, sagte er, einfach feig, mehrere gegen einen, und auch noch nachts, einfach feig.“ (B 195)

So wie sich hier aus den konträren Positionen Anitas und des Lehrers für Johann keine persönliche Herausforderung ergibt, verhält er sich dem zeitgeschichtlichen Geschehen gegenüber insgesamt indifferent. Nach ersten erotischen Erlebnissen entdeckt er zunehmend die Welt der Bücher für sich. Allerdings sind es nicht die in der Schule gelesenen Bücher mit Titeln wie Sperrfeuer um Deutschland, Der Befehl des Gewissens, Armee hinter Stacheldraht, die Johann beschäftigen. „Kriegsbücher fand Johann noch langweiliger als Waldbauernbubengeschichten.“ (B 180) Statt dessen vergräbt er sich in die Welt der Romane Karl Mays. Als durch die vielen Ausgebombten aus den Großstädten auch im Dorf die Realität des Krieges spürbar wird, beginnt der inzwischen 18jährige Gedichte zu schreiben. „Den Ton gab unwillkürlich immer der Dichter an, den er gerade las. Er las nichts anderes mehr als Gedichte. Was in der Zeitung stand, unlesbar. Romane, unlesbar.“ (B 300) Im Frühjahr 1945 wird Johann in einem bezeichnenderweise Ausflug überschriebenen Kapitel noch zur Wehrmacht eingezogen, ohne jedoch zum Fronteinsatz zu kommen. „Johann hatte nur ein Buch dabei: Also sprach Zarathustra.“ (B 352) Durch seine Lektüre gelingt es ihm bis in die letzten Kriegs tage hinein, die reale zeitgeschichtliche Welt abzuwehren und sich im Spiegel der Literatur mit den Problemen seiner Innerlichkeit zu befassen. Erst nach seiner Rückkehr nach Wasserburg bekommt er eine Ahnung, daß in den vergangenen zwölf Jahren in der von ihm unbemerkten Sphäre der Öffentlichkeit unzählige Verbrechen geschehen sind. Es ist ihm jedoch unmöglich, diese Verbrechen in einem Verhältnis zu seiner eigenen Person zu sehen. „Er wollte nicht bestreiten, was rundum als entsetzlich sich auftat. Aber er wollte sich nicht verstellen. Und er hätte sich verstellen müssen, wenn er getan hätte, als erreiche ihn das Entsetzliche. Es erreichte ihn nicht. Er kam sich vor wie in einer Flut. In einem Element aus nichts als Gunst und Glanz. Jeder Tag, an den er sich erinnerte, war der schönste Tag in seinem Leben.“ (B 388f.)

Walser hat mit der fiktiven, aus autobiographischen Elementen gestalteten Schilderung einer Jugend im Dritten Reich das exemplarische Bild eines politisch unbeeinflußten, ganz der privaten Lebensfreude zugewandten Jugendlichen und jungen Mannes gezeichnet. Diese Figur ist umgeben von einer Vielzahl geschilderter Charaktere, die teils ironisch, teils lakonisch präsentiert werden und ein dichtes Porträt der deutschen Gesellschaft in den Jahren des Nationalsozialismus entstehen lassen. Provozierend wirkt auf den Leser der Nachdruck, mit dem der Erzähler auf Johanns selektiver Wahrnehmung der Verhältnisse und dem hedonistischen Anspruch beharrt, „sein Leben würde ein einziger Aufschwung sein“ (B 322).

Mit diesem Anspruch verbindet sich ein Erzählkonzept, das allen drei Teilen in einem ersten Kapitel eingeschrieben ist und jeweils den Titel trägt „Vergangenheit als Gegenwart“. Unter diesem leitmotivischen Motto beschwört der Erzähler eine Aneignung der eigenen Geschichte, die unter Absehung von allen analytischen, gar kritischen oder moralischen Impulsen zustande kommen soll und darin dem Traum vergleichbar ist. „Beim Traumhausbau gibt es keine Willensregung, die zu etwas Erwünschtem führt. Man nimmt entgegen. Bleibt bereit.“ (B 10) Der Erzähler lehnt eine Orientierung an Prousts Erinnerungsmodell der mémoire involontaire ebenso ab24 wie die direkte willentliche Thematisierung der Vergangenheit. Dennoch bleibt sein eigener gedanklicher Entwurf, mit dem er die intellektuelle Einstellung gegenüber der Vergangenheit zu einer existentiellen transformieren will, durch den Begriff des Traums merkwürdig verschwommen. Die begrifflichen Grundlagen werden letztlich auch deshalb nicht ausgeführt, weil die Intention von Walsers Erinnerungskonzept in einer ganz anderen Richtung liegt. Es geht ihm um die Frontstellung gegen eine aktuelle Erinnerungskultur, die unter dem Eindruck der angehäuften Schuld im Dritten Reich nach Meinung des Erzählers den „Umgang mit der Vergangenheit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt strenger normiert“ (B 282). Damit wird eine Kritik vorweggenommen, die Walser in seiner Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels weiter expliziert hat. Dort spricht er von einer „Moralkeule“, mit der die politische Linke in Deutschland die Auseinandersetzung mit den Jahren des Nazireiches zur „Pflichtübung“ machen wolle. Im Roman erhebt er den Vorwurf der Vergangenheitsverleugnung. „Ich habe einige Male zugeschaut, wie Leute aus ihrer Vergangenheit förmlich herausgeschlüpft sind, um der Gegenwart eine günstigere Vergangenheit anzubieten.“ (B 282) Die Brisanz dieser Passage gibt sich erzähltechnisch dadurch zu erkennen, daß der durchgängige Er-Erzähler des Romans hier als Ich-Erzähler auftritt. Das Anliegen ist offensichtlich keines mehr, das man der Mittelbarkeit einer dritten Person anvertrauen kann. Walser fordert in diesem Kontext begrifflich ein, was der Roman inhaltlich gestaltet hat: ein „interesseloses Interesse an der Vergangenheit. Daß sie uns entgegenkäme wie von selbst.“ (B 283)

Es kann hier nicht entschieden werden, ob die Forderung nach einer traumhaften Annäherung an die Vergangenheit eine Priorität gegenüber einer kritischen Aneignung des Gewesenen beanspruchen kann. Am Widerspruch, der sich an Walsers Rede entzündet hat, ist deutlich geworden, daß eine träumerische, von allen moralischen Reflexionen freie Vergegenwärtigung der eigenen Biographie für diejenigen problematisch ist, denen die Zeit des Nationalsozialismus aus ihrem Erleben heraus zum Alptraum wurde. Vom Standpunkt der historischen Objektivität aus bleibt festzuhalten, daß Walsers Buch trotz aller persönlicher Wahrheit ein hochproblematisches Bild der Zeit liefert. Der autobiographisch orientierte Rückblick setzt zwar die zwölf Jahre des Nationalsozialismus - und damit eine politisch markierte Periode - ins Zentrum der Schilderungen, stellt diese Zeit jedoch ganz unter die Dominanz einer Privatsphäre, in die Nachrichten von den Naziverbrechen nicht oder nur zum geringen Teil eindringen. Für die Charakteristik von Walsers Erinnerungskonzept ist damit die verklärende Haltung auffällig, die der Erzähler - und mit ihm der Autor - den Erlebnissen und Erfahrungen der Vergangenheit gegenüber einfordert. In den apologetisch angelegten Einleitungskapiteln manifestiert sich ein von allen kritisch-moralischen Reflexionen freier Umgang mit der eigenen Biographie, die dem Leser als Traum von einer gesellschaftlichen Normalität präsentiert wird.

Christoph Heins Erzählung Von allem Anfang an (1997) ist in mehrerer Hinsicht mit Walsers Roman verwandt. Es handelt sich auch hier um ein autobiographisch fundiertes Erinnerungswerk, das einen Rückblick in die Zeit der Pubertät gestaltet. Wie bei Walser wird die Vergangenheit nicht als ganze ausgebreitet; die Schilderungen konzentrieren sich vielmehr auf einen begrenzten Zeitraum im Sommer und Herbst 1956 und eine kurze Abschiedsszene im Herbst 1958. Und auch hier gewinnen die Jugenderlebnisse durch ihre zeitlichen Bezüge zum historisch-politischen Kontext an Brisanz. Grundsätzlich anders als bei Walser ist allerdings das Verhältnis, in das erzählendes Subjekt und Zeitgeschichte treten. Denn obwohl sich Heins Konzept der Figur noch viel stärker an der Wahrnehmungsfähigkeit eines 12- bis 14jährigen orientiert, bilden die zeitgeschichtlichen Geschehnisse nicht nur einen durchgängigen Untertext zur Handlung, sondern haben auf die Persönlichkeitsentwicklung des Pubertierenden entscheidenden Einfluß.

Das zeigt sich schon auf der ersten Seite der Erzählung in einer Szene, die den zeitlichen Schlußpunkt der Handlung markiert. Der Protagonist und Ich-Erzähler Daniel verläßt im Herbst 1958 seine ostdeutsche Heimatstadt, um in Westberlin ein Gymnasium zu besuchen, was ihm als Pfarrerssohn in der DDR verwehrt wird. Eine Stunde vor der Abfahrt trifft er seine Mitschülerin Lucie, die ihn schon einmal bei der Klassenlehrerin als Westberlinfahrer denunziert hat. Er überlegt, ob er sie von seinem Weggehen unterrichten soll, „aber dann erinnerte ich mich noch rechtzeitig daran, wie sie mich bei Fräulein Kaczmarek verraten hatte“.25 Um seine Abreise nicht zu gefährden, verzichtet Daniel auf jede nähere Erklärung und verleugnet sein Vorhaben sogar, als Lucie ihn direkt auf einen Umzug nach Westberlin anspricht.

Bereits diese Eingangspassage macht deutlich, daß in der Welt, die Heins Erzähler präsentiert, die private Sphäre tangiert ist von Erfahrungen politischer Art, die schon der 14jährige gemacht hat. Diese Erfahrungen lassen ihn mißtrauisch auf vermeintliches Aushorchen reagieren, blockieren eine Identifikation mit dem Komplex der Kindheit und verhindern ein kontinuierliches Verhältnis zu den Orten der Vergangenheit, wie sie Walser beschreibt. Vertieft wird vielmehr eine wachsende Distanz, die am Ende der Erzählung in einen Bruch mit der Herkunftswelt mündet.

Die Verknüpfung von privater und öffentlicher Sphäre erweist sich bei diesem Text als erzählerisch kompliziert, weil Hein eine durchgehende Ich-Perspektive wählt und somit an das Bewußtsein und die Erlebnisfähigkeit eines pubertierenden Jugendlichen gebunden bleibt. Dennoch zeigt sich die Interferenz zwischen privatem und gesellschaftlichem Bereich in den sensiblen Reaktionen Daniels auf alle Signale aus der Welt außerhalb seines Erfahrungshorizontes. So schließt er Freundschaft mit einem Artisten aus einem gastierenden Zirkus. Auf dessen Frage, ob man hier in dieser Stadt denn wirklich leben könne, antwortet Daniel, dem erstmals eine Ahnung von der Beschränktheit seines Gesichtskreises kommt: „Nein, hier kann man nicht leben [...] Die Stadt ist langweilig.“ (VA 109)

Der Abschied aus dieser als langweilig empfundenen Kleinstadt bereitet sich vor seit den Ferien im Sommer 1956, die in vier mittleren Kapiteln dargestellt werden. Daniel verbringt diese Zeit mit seiner Schwester bei den Großeltern. Sein Großvater ist Verwalter auf einem verstaatlichten Gut und wird am 20. August 1956 entlassen, weil er sich weigert, in die Partei einzutreten. Daraufhin müssen die Großeltern mit ins Pfarrhaus zu Daniels Eltern ziehen. Das hat Folgen für die private Welt der Familie und bringt Veränderungen, die von Daniel als Beeinträchtigung und Einschränkung erfahren werden. „Mit Holzwedel hatten wir unseren Platz für die Sommerferien verloren. Es fehlte nicht nur das große Gut, die Tiere, der Badesee und das freie Land, es war alles anders geworden.“ (VA 140) Daniels Nenntante Magdalena reflektiert diese Veränderungen in einem Satz, der der Erzählung den Titel gegeben hat: „Dem Leben muss man von allem Anfang an ins Gesicht sehen.“ (ebd.) Dieses illusionslose Realitätsverhältnis wird zu einer Zeit eingefordert, als nach dem XX. Parteitag der KPDSU im Februar 1956 die Zeichen der Zeit für eine kurze Phase auf Liberalisierung und „Tauwetter“ standen, bevor mit der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes - von dem Daniel und seine Familie in Westberlin erfahren - die Repression siegt. Den wahren Charakter der Zeit macht die Erzählung durch die Entlassung des Großvaters unmißverständlich deutlich; es handelt sich um eine doktrinäre und volkswirtschaftlich völlig unsinnige Maßnahme, die Daniel seiner Schwester als Werk der „Bestimmer“ knapp begründet: „Wenn du Bestimmer bist, musst du das nicht erklären. Du bestimmst einfach und fertig.“ (VL 81) Damit kennzeichnet er diese Entscheidung ganz im Horizont seines jugendlichen Verständnisses und doch genau als das, was sie ist: einen Akt der staatlichen Willkür.

Heins Rückblick auf die Zeit der (eigenen) Pubertät vermeidet alles vordergründige Problematisieren wie auch jede moralisch wertende Botschaft. Dennoch gelingt es ihm, den politischen Charakter der Zeit auch aus der Perspektive eines Jugendlichen heraus deutlich zu machen. Keine verlorene Vergangenheit wie bei Walser wird beschworen; der Erzähler versucht lediglich, gemäß Heins eigenem lakonischem Anspruch, „wie ein Chronist eine Sache mitzuteilen“.26 Die Eindringlichkeit, mit der die Welt des Herkommens geschildert wird, ergibt sich aus der Ich-Erzählperspektive und den authentisch wiedergegebenen Details der Kindheit. Dennoch wird klar, daß es sich bei der geschilderten Welt um eine vergangene, vom späteren Leben des Erzählers radikal getrennte handelt. Das unterstreicht der letzte Satz der Erzählung, der die Relation zur Nenntante Magdalena resümiert, die die eigentliche Kontaktperson Daniels gewesen ist und einige Zeit nach seinem Weggehen stirbt. Daniel bilanziert diesen Tod mit der lapidaren Feststellung: „Ich besitze nichts von ihr, nicht einmal ein Foto.“ (VA 197)

Die novellistische Erzählung Der Verlorene (1998) von Hans-Ulrich Treichel hat einen autobiographischen Kern, der es möglich macht, sie mit den hier interpretierten Texten in Beziehung zu setzen. Auf ihrem Sterbebett hat Treichels Mutter ihrem Sohn anvertraut, daß sein angeblich verstorbener älterer Bruder in Wirklichkeit 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee einfach verlorengegangen ist. Diese persönliche Erfahrung ist Treichels Ausgangspunkt für ein ironisch-satirisches Porträt der westdeutschen Gesellschaft der fünfziger Jahre, gezeichnet aus dem Blickwinkel des Bruders des Verlorenen.

Die Erzählung transformiert durch eine typisierende Darstellung, die von dem Vater und der Mutter spricht, die individuellen Erlebnisse zum exemplarischen Fall einer westdeutschen Kleinfamilie zur Zeit des Wirtschaftswunders. Eine „von Schuld und Scham vergiftete Atmosphäre“27 bestimmt das Lebensgefühl dieser Familie. Der Vater kompensiert seine Schuldgefühle in gesteigerter Arbeitsleistung beim Aufbau seines Geschäfts, während die nicht berufstätige Mutter sich in Selbstvorwürfen um das Schicksal ihres Sohnes ergeht und „unter der Last der Erinnerung zu erstarren drohte“ (V 45). Der Ich-Erzähler begann früh zu begreifen, „daß Arnold, der untote Bruder, die Hauptrolle in der Familie spielte und mir eine Nebenrolle zugewiesen hatte“ (V 17).

Etwa zwei Drittel der Erzählung umfaßt die Darstellung der abstrusen Anstrengungen, die die Eltern unternehmen, um den Verlorenen aufzuspüren und zweifelsfrei zu identifizieren. Nachdem über das Rote Kreuz ein Findelkind aufgetan wurde, das am gleichen 25. Januar 1945 seine Eltern verloren hat, gelten alle Anstrengungen dem Nachweis der tatsächlichen Verwandtschaft. Dazu wird nach einem Fingerabdrucks- und Fotografienvergleich auch ein „Anthropologisch-erbbiologisches Abstammungsgutachten“ (V 63) herangezogen. Die Beschreibung der dafür nötigen Messungen mit Kieferwinkel- und Bauchfettzange kann in ihrer Absurdität nicht nur als eine Wissenschaftssatire gelten, sondern karikiert auch die Nachwirkungen der nationalsozialistischen Eugenik in der frühen Bundesrepublik.

Treichels Erzählung, die auf satirische Weise zur inneren Geschichtsschreibung seiner Generation beigetragen hat, beschreibt die autobiographisch angeregte Suche nach dem Bruder aus einer kritisch-ironischen Distanz, die sich aus dem Verhältnis des Erzählers zu den Jahren seiner Kindheit ergibt. Neben der inneren Verfassung der Epoche kommen dabei auf subtile Weise auch die in der bundesrepublikanischen Gesellschaft fortwirkenden Relikte der Nazizeit zur Sprache. Die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse werden durch die erzählerischen Verfahren Treichels unmißverständlich benannt - und dennoch ist das Verhältnis zur Vergangenheit ein deutlich entspannteres als bei Hein oder de Bruyn und trifft sich in diesem Punkt viel eher mit Walsers autobiographischem Roman.

Obwohl die ost-west-typischen Divergenzen beim Vergleich der hier vorgestellten Texte nicht überstrapaziert werden sollen, lassen sich doch unterschiedliche Strategien ausmachen, die bei der literarischen Präsentation autobiographischer Erfahrungen wirksam werden. Die in ihrer wertenden Stellung zur Vergangenheit und ihren Darstellungsmitteln deutlich unterschiedenen Texte von Walser und Treichel sind darin ähnlich, daß sie einen gelassenen, von unmittelbarer Betroffenheit freieren Umgang mit ihrer Biographie anbieten. Die Vergangenheit erscheint als so weit abgeschlossen, daß man sie verklärend oder parodistisch wieder aufrufen kann; die Verfasser geben dadurch den stärker individuellen Motiven für einen Rückblick Raum. Walser präsentiert seine Jugenderlebnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus in diesem Sinne als geträumte Vergegenwärtigung einer Individualwelt, die ihre private Verfassung entgegen allen historisch-kritischen Befunden selbstbewußt behauptet. Treichel überhöht die Kritik an den kleinbürgerlich-beschränkten Verhältnissen der fünfziger Jahre durch seine satirische, auf typische Phänomene gerichtete Darstellung.

Dem gegenüber verstehen sich die Texte von Hein und de Bruyn in viel strengerem, an Objektivität orientierten Sinne als Dokumente und Zeugnisse von chronistischem Anspruch. Heins auf die Perspektive eines Pubertierenden beschränkter Blick in die Zeit zeigt sich als lakonische Bestandsaufnahme des Vergangenen und ist damit der Forderung nach einer kritischen Durchleuchtung der Geschichte, wie sie de Bruyn einfordert und umsetzt, sehr nahe. Signifikant ist auch der jeweils thematisierte zeitliche Rahmen der Texte. Die Arbeiten von Hein und de Bruyn sind an eine Auseinandersetzung mit den spezifischen Verhältnissen der DDR-Gesellschaft gebunden und leisten damit eine kritische Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit. Diese zeitliche Orientierung erweist sich für viele weitere aus der DDR stammende Autoren und Autorinnen als verbindlich. Zu nennen sind Kurt Drawert (Spiegelland, 1992), Brigitte Burmeister (Unter dem Namen Norma, 1994) und Kerstin Hensel (Tanz am Kanal, 1994). Für Walser und Treichel bezeichnend ist dagegen die Öffnung ihrer Texte für eine Vergangenheit, die hinter die jüngere, bundesdeutsche Wirklichkeit zurückreicht. Auch sie teilen diese Einstellung - abseits vom autobiographischen Paradigma - mit maßgeblichen Autoren westdeutscher oder österreichischer Provenienz. Dazu rechnen Marcel Beyer (Flughunde, 1995), Christoph Ransmayr (Morbus Kitahara, 1995) und Bernhard Schlink (Der Vorleser, 1995).

Für Texte mit einer autobiographisch-retrospektiven Einstellung kann für den Untersuchungszeitraum der neunziger Jahre festgehalten werden, daß sich die Herkunft der Autoren aus dem Osten und Westen Deutschlands auswirkt auf den Gegenstandsbereich ihrer Literatur. Während aus westlicher Sicht vorrangig die Zeit der Nazidiktatur und die Nachwirkungen dieser Periode in der Bundesrepublik fokussiert werden, stellt sich unter östlichem Blickwinkel die Auseinandersetzung mit der Zeitspanne von vierzig Jahren DDR als das zentrale Thema dar.

Einfache Geschichten und Schwierigkeiten mit der Normalität

Das Bild der Literatur der neunziger Jahre bliebe unvollständig, wenn man es bei einer Gegenüberstellung der in ihrer Stoff- und Themenwahl auch im Jahrzehnt nach der Wende immer noch getrennten deutschen Literatur beließe. Der Situation völlig unangemessen wäre es allerdings auch, wollte man den neugewonnenen Bezugsrahmen des einen Staates normativ voraussetzen und in einer thematisch geschlossenen neuesten deutschen Literatur gespiegelt sehen. Ein Blick auf die Vielfalt der erschienenen Texte zeigt denn auch, daß nach dem Wegfallen der künstlichen Grenze jetzt die natürlichen Unterschiede in der literarischen Verarbeitung der Wirklichkeit wieder als der Normalfall deutscher Literatur gelten können. Die Trennungslinien zwischen den Generationen, die regionalen und sprachlichen Kontraste und die Unterschiede in der Traditionsbindung zwischen konventioneller und avantgardistischer Literatur werden in Zukunft wieder stärker zum Tragen kommen28 - und sie tun es bereits jetzt. Unübersehbar ist allerdings, daß die von der Kritik erhobene Forderung nach dem Zeitroman, der die gesellschaftliche Verfassung der Nation gültig widerspiegeln soll, an der Praxis der Autoren von literarischem Anspruch fast vollständig vorbeigeht. Überzeugend in ihrem Wirklichkeitsverhältnis erscheinen deshalb auch gerade die Texte, die sich einer ,Totalaufnahme‘ der Gesellschaft verweigern, um statt dessen die Gegenwart als ein Kaleidoskop von Wirklichkeitspartikeln wahrzunehmen, bei dem ein subjektiv begrenzter Erlebnis- und Erfahrungshorizont vorausgesetzt ist.

Daß sich dafür gedrängtere Erzählformen besser eignen als ein epischer Großentwurf, belegen Ingo Schulzes Simple Stories (1998), die durch ihren Untertitel („Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz“) bodenständig verankert sind. Die Tradition der amerikanischen Short Story wird hier bereits durch den Titel aufgerufen; auch der ,zentrale Effekt‘, auf den Poe die klassische Short Story ausgerichtet wissen wollte, kommt insofern zu seinem Recht, als die 29 Kapitel des Buches durchaus als eigenständige Erzähleinheiten aufgefaßt werden können.29 Erst ihr dezentrales Zusammenspiel läßt jedoch jenen Mikrokosmos im ostthüringischen Altenburg entstehen, in dem mittels des Besonderen das Alltägliche erhellt und dargestellt wird.

Der geschilderte Alltag von über 30 kunstvoll miteinander verflochtenen Biographien findet - und das ist hier entscheidend - im Präsens statt, d.h. in der deutschen Gegenwart nach 1990. Selbstverständlich ist die DDR-Vergangenheit der Figuren in jedem einzelnen Lebenslauf noch präsent: Der letzte FDJ-Chef wird reich, „weil er Aufträge für Baufirmen vermittelt, der kennt halt Tod und Teufel“.30 Ein Schuldirektor ließ sich, „als es 89 losging“, noch mit einem Leserbrief beauftragen, in dem er darauf bestand, „daß Demonstrationen nichts ändern und Provokateure nicht mit Milde rechnen dürften“ (S 222). Nach der Wende kann er selbst nicht mehr mit Milde rechnen, kündigt auf den Druck der Kollegen hin seine Arbeit und verliert Mitte der neunziger Jahre in der Einsamkeit zu Hause langsam den Verstand. Er endet schließlich in einer Nervenheilanstalt. Sein Sohn muß als nicht Promovierter eine Assistentenstelle als Kunsthistoriker in Leipzig aufgeben und arbeitet zunächst als Außendienstmitarbeiter bei einer „Natursteinkonservierung GmbH“ (S 40), bevor er schließlich arbeitslos wird.

Voraussetzung dieser Biographien ist damit in jedem Fall die persönliche, politische und berufliche Herkunft aus der Gesellschaft und den Institutionen der DDR; aber der eigentliche Gegenstand von Schulzes ,storytelling‘ ist nicht die Aufarbeitung der Vergangenheit, auch nicht die Darstellung jener von Christoph Dieckmann beschriebenen Mentalität, die bei vielen im Osten dazu geführt hat, sich in der „milde[n] Trauer der Provinz“ einzurichten, wo „man nicht mehr werden will, sondern geworden sein“.31 Schulzes erzählerisches Interesse richtet sich vielmehr auf die Umstände, unter denen sich ostdeutsche Lebensläufe im wiedervereinigten Deutschland fortsetzen. Die aktuellen Probleme und Verwicklungen sind zum Teil noch Resultat der DDR-Vergangenheit, in weitaus größerem Maße jedoch von den Normen und Zwängen der neuen Gesellschaft diktiert: Der Chef des örtlichen Lokalblattes überredet seine Geliebte, mit einem Steuerbeamten zu schlafen, weil der bei der Buchprüfung in der Redaktion ein Auge zugedrückt hat (Kap. 23); ein Taxiunternehmer weigert sich, einen farbigen Chauffeur weiterzubeschäftigen, für den er nach dem Angriff eines ausländerfeindlichen Fahrgastes wochenlang Krankengeld bezahlen mußte (Kap. 9); ein Paar trennt sich, weil er eine Nato-Intervention in Jugoslawien befürwortet, was sie vor den Kopf schlägt: „89 hättest du nie so geredet, nie!“ (S 203)

Schulze gelingt es, aus einer unsentimentalen, mitunter auch tragikomischen, aber nie anklagenden Erzählhaltung ein Sitten- und Gesellschaftsbild der ostdeutschen ,Übergangsgesellschaft‘ der neunziger Jahre zu entwerfen, das in 29 Momentaufnahmen die Stationen des Wandels gültig aufbewahrt. Nicht zu überhören ist - bei aller illusionslosen Genauigkeit auch in der Schilderung der privaten Zusammenbrüche - ein optimistischer Grundton, der mit der Ausrichtung des Erzählens auf die Gegenwart korrespondiert: „Die Erde dreht sich, und man kann nur warten, daß sie sich weiterdreht und sich dadurch die Perspektive ändert, so daß man die Dinge auch mal wieder anders sieht. Bis endlich dieses kosmische Fenster erscheint, das man braucht, um die Rakete starten zu können.“ (S205)

Für den Zusammenhalt der Figuren und Geschichten in der neuen Unübersichtlichkeit der Nachwendegesellschaft sorgt ein Verweis- und Andeutungsstil, der es dem Leser zumutet und überläßt, die einzelnen Schicksale im Vergleich mit weit zurückliegenden Kapiteln selbständig zu rekonstruieren und die Segmente zu verbinden. Die Frage nach dem verborgenen Ausgangspunkt des Erzählens wird an Renate Meurer delegiert, deren Familie das geheime Zentrum des Romans darstellt: „Warum ich das erzähle? Weil man so schnell vergißt.“ (S 23)

Ein Vergleich von Botho Strauß’ Erzählzyklus Wohnen Dämmern Lügen (1994) mit Schulzes Simple Stories erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich. Überhaupt versteht es sich heute keineswegs von selbst, die Texte von Botho Strauß an literarischen Maßstäben zu messen.32 Durch seinen berüchtigten Spiegel-Essay Anschwellender Bocksgesang (1993), den er (in erweiterter Fassung) auch dem Sammelband Die selbstbewußte Nation (1994) beifügen ließ, hat Strauß einer Politisierung seiner Person und seines Werks Vorschub geleistet, was eine literarisch fundierte Kritik nicht eben erleichtert hat.33 Die heftige - und wie ein Jahr später bei Grass fast durchweg negative - Resonanz, die der Prosaband in den Medien gefunden hat34, verdankt sich deshalb zum erheblichen Teil der durch die rechtskonservativen Töne des Essays sensibilisierten Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit; dennoch lohnt sich ein Blick auf dieses merkwürdige Buch auch noch im Rahmen einer Rückschau auf das ganze Jahrzehnt.

Die 38 Episoden des Textes beziehen sich - wie Schulzes Simple Stories - auf eine Gegenwart, deren Befindlichkeit als Kurzgeschichte, Traumprotokoll, Denkbild oder Monolog gestaltet wird. Auffällig ist allerdings, daß die einzelnen Skizzen untereinander durch ihre Handlungselemente, Personen und Themen vordergründig keinerlei Beziehung unterhalten. Einige der Szenen sind durch Verkehrsmittel dem Raum der Großstadt zuzurechnen, bei vielen ist jedoch ein auf die Gesellschaft verweisendes Umfeld nicht auszumachen. Schon der Titel deutet an, daß es die domestizierten Innenräume sind, die den bevorzugten Schauplatz des Geschehens abgeben. Dem entspricht die erzählerische Ausrichtung auf innere Befindlichkeiten, Gefühlsverwirrungen, die Dramen des privaten Alltags. Der von Strauß in den gesellschaftskritischen Stücken der 80er Jahre geschulte Röntgenblick auf das „Kräftespiel von Anziehung und Ablassen“35 im zwischenmenschlichen Bereich kommt auch hier zur Anwendung: Ein Gescheiterter, der im Leben „einfach sitzen geblieben“ (W14) ist, versucht vergeblich, sich mit seiner Obermieterin einzulassen; eine alte Dame, die beim Kaffeekränzchen schon ihre Zukunft nach dem Ableben des Mannes plant, wird von ihm, der „unaufhörlich [...] aber mit großer Ausdauer“ auf ihren Tod lauert (W 83), am Ende doch noch überlebt; eine Ehefau muß zusehen, wie „aus den Nebeln eines nie erklärten Abschieds“ die Jugendgeliebte ihres Mannes und „langjährige Beschatterin“ (W 172) ihrer Ehe wieder auftaucht und von ihrem Partner Besitz ergreift.

Immer wieder sind es Situationen des Scheiterns, des Versagens und der Unfähigkeit zur Selbsteinschätzung, die Strauß entwirft. Als symptomatisch kann eine mißglückte Begegnung gelten, wo ein Mann mit seiner neuen Partnerin die einstige Ehefrau und den gemeinsamen Sohn wiedertrifft. Ein Gespräch will in dieser Runde nicht aufkommen, und so sitzt man zusammen, „um zu viert das Diagramm des Scheiterns zu erfüllen“ (W 106). Die Darstellung der realen Zusammenkunft wird damit abgebrochen; ein lapidarer Kommentar überführt die konkrete Situation in eine abstrakte Formel. Mit dieser an Ernst Jünger geschulten Strategie versucht Strauß, die präsentierte Wirklichkeit auf ihre Grundmuster hin zu deuten. Reflektierende Annotationen und Kommentare des Erzählers überwuchern in der Umsetzung dieses Verfahrens den Text und die geschilderten Ereignisse. Die Anmerkungen verweisen nun nicht mehr auf real vorstellbare Personen und deren individuelle Züge, sondern auf archetypische Konstellationen und letztgültige mythische Konstanten. Die zu Spielpuppen degradierten Figuren der Erzählung können deshalb auch nicht als eigenständig Handelnde auftreten, sondern müssen „Zug um Zug die Regeln des Spiels entdecken, das sie beherrscht“ (W 46). An einer unbefangenen Lebensregung werden sie zusätzlich gehindert von „ihrem grundsätzlich gedämpften, von intellektueller Selbstprüfung zernagten Temperament“ (W 158). Im Zusammenhang mit diesem Determinismus steht auch die einzige erkennbare motivische Konstante des Erzählzyklus; denn Wohnen Dämmern Lügen ist ein Buch der Wartenden.

Schon die erste Erzählsequenz führt auf einen stillgelegten Bahnhof, auf dem ein müder Reisender vergeblich der Ankunft eines Zugs entgegenharrt: „Seine tiefe Geduld, das alleinherrschende Gefühl für die bevorstehende Heimfahrt hat seine Sinne erfolgreich von jedem Detail abgelenkt, das ihm lästig, seiner Stimmung abträglich werden könnte.“ (W 8) Dieser Dämmerzustand des Wartens hat sich wie Mehltau auch über viele der nachfolgenden Episoden gesenkt. Der Gescheiterte, der den Schritten im Treppenhaus lauscht (W16), der esoterische Leser, der über einem Buch brütet, bis das „langsame, große Aufklaren“ (W 54) ihn überkommt, der alternde Intellektuelle, der an der Seite seiner kranken Mutter dahinlebt und dort, wo deren Leben abbricht, „reglos stehenbleiben“ (W 141) will - sie alle stagnieren in einem Wartezustand, dem es nicht an Bedrohlichkeit fehlt.

Im „Anschwellenden Bocksgesang“ hat Strauß diese Bedrohung als „Terror des Vorgefühls“ begrifflich vorformuliert. Der Erzählband, der zu Recht als „Buch zum Manifest“ bezeichnet worden ist, setzt die antizipierte Seelenlage szenisch um. Am greifbarsten wird dies im Monolog der letzten Episode des Erzählbandes, einem furiosen Abgesang auf alles, was die westliche Zivilisation hervorgebracht hat: Demokratie, Aufklärung, Menschenrechte, Säkularisierung. Kurz wird die reale zeitgeschichtliche Welt gestreift: Ein Streit über den sich auflösenden zweiten deutschen Staat hat den Redenden mit seinem besten Freund entzweit. „Das war der große Bruch der Vereinigung, für mich ein Zusammenbruch.“ (W 201) Doch wichtiger ist ihm die geschichtliche Zäsur als Anlaß für weit größere Umwälzungen: „Epochensturz und Ärasturz. [...] Jetzt muß man wieder, der Künstler zuerst, zur Tagesordnung des Ewigen übergehen. [...] Im Haus des Seins werden polternd die Möbel gerückt.“ (W 181f.) Diese ungeschlachte und brachiale Metaphorik schließt mit ihren Verfallsvisionen auch die sprachliche Sphäre mit ein, wenn „das feste, das mächtige Nennen in den Strudel des Jahrtausend-Ausgusses“ (W 193) zu geraten droht.

Angesichts des Furors dieser zeitkritischen Suada stellt sich die Frage nach der existentiellen Qualität des darin artikulierten Unbehagens. Aufschluß kann die Geschichte eines technischen Zeichners geben, der einst als Bildhauer von Monumentalplastiken debütiert hat. Weil dem damaligen Zeitgeschmack der Sinn für seine „Riesenfiguren“ abging, hat er sich beruflich umorientiert, beginnt aber heute, unter dem Eindruck der umwälzenden Geschichtsprozesse, seine Arbeiten neu zu bewerten: „Das Übernatürliche in meinen Riesen, das war da, das gab’s, das hätte man heute leicht entdeckt, jetzt, wo’s leider zu spät für mich ist.“ (W 42) Die Klage über die verpaßte Chance, den aktuellen Zeitgeist zu bedienen, ist insofern bezeichnend, als der einstige Künstler schon immer „so ziemlich alles mitgemacht [hat], was sich bewegte, Indien, Poona, grüne Welle, Frieden, New Age, nichts ausgelassen“ (W 41). Damit wird offensichtlich, daß es in dem Erzählband von Botho Strauß auch einen Anhaltspunkt dafür gibt, daß selbst die Mode der Apokalyptiker einmal vorbeigehen wird. Dann kann sich die Literatur wieder darauf besinnen, Zeugnis zu geben von den Erfahrungen der realen Gegenwart.

1 Vgl. Ursula Heukenkamp: Eine Geschichte oder viele Geschichten in der deutschen Literatur seit 1945? Gründe und Gegengründe, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 5, 1995, S. 22-37.

2 Vgl. dazu Hartmut Steinecke: Von zwei deutschen Literaturen zu einer Literatur? Bemerkungen zu einigen Entwicklungen vor und nach der Wende, in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik, 1995, S. 13-29 (15).

3 Die stark zensierte und um einige frühe Erzählungen erweiterte Version des Buches trug bei Reclam Leipzig den Titel Stimme Stimme. Gedichte und Prosa. Es blieb bis 1989 die einzige Veröffentlichung Hilbigs in der DDR.

4 Thomas Beckermann: Eigenwillige Auskunft. Einige Anmerkungen zu Wolfgang Hilbig (vor seiner ersten Veröffentlichung), in: Uwe Wittstock (Hrsg.): Wolfgang Hilbig. Materialien zu Leben und Werk, Frankfurt/M. 1994, S. 93-113 (107).

5 Wolfgang Hilbig: Ich, Frankfurt/M. 1993, S. 65. Im folgenden Text abgekürzt „I“.

6 Man denke an den exemplarischen Fall von Sascha Andersen, der sich bis zu seiner Enttarnung durch Wolf Biermann im Oktober 1991 als Spiritus rector der Alternativszene am Prenzlauer Berg hofieren ließ. Der Fall Andersens ist es auch, der die Konzeption des Romans erkennbar mitbestimmt hat.

7 Die Provokation, „ausgerechnet einen Literaten, einen Schriftsteller zu einer Stasifigur zu machen“, reflektiert Hilbig auch in seiner Dankesrede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises. Vgl. Uwe Wittstock (wie Anm. 4), S. 14-18 (16).

8 Vgl. Reinhard Baumgart: Quasi-Stasi. Zu dem Roman Ich, in: Die Zeit vom 8. 10. 1993.

9 Eine herausragende Rolle spielt dabei der Rechtfertigungsessay des einstigen Stasispitzels Rainer Schedlinski, aus dem wichtige Passagen von Hilbig (z.T. fast wörtlich) adaptiert wurden. Vgl. Rainer Schedlinski: Die Unzuständigkeit der Macht, in: Neue Deutsche Literatur 40, 1992, S. 75-105.

10 Reinhard Jirgl: Abschied von den Feinden, München 1995, S. 107. Nachfolgend im Text „A“ abgekürzt. Die hier und in den folgenden Zitaten auftretenden Abweichungen von der üblichen Sprachnorm folgen Jirgls an Arno Schmidt geschulter Diktion.

11 Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“, hrsg. von Siegfried Suckut im Auftrag der Abt. Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, 1996, S. 164.

12 Reinhard Jirgl: Hundsnächte, München 1997, S. 77, 130, 183, 288. In der Folge im Text mit „H“ zitiert.

13 Den schrillsten Ton schlägt der SPIEGEL, Nr. 34, 1995 an. Marcel Reich-Ranicki zerreißt den Roman handgreiflich auf dem Titelblatt und verbal in seiner Rezension, aber auch Iris Radisch verurteilt in der Zeit vom 25. 8. 1995 die „Bitterfelder Sackgasse“, in die sich Grass mit seinem Buch hineinmanövriert habe. Eine Dokumentation der Kritik liegt inzwischen auch als Buch vor: Blech getrommelt. Günter Grass in der Kritik, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, Göttingen 1997.

14 Günter Grass: Ein weites Feld, Göttingen 1995, S. 15, passim. Im folgenden Text abgekürzt „WF“.

15 Der Paternoster ist es, in dem er seine Frau kennenlernt, in ihm begegnete er seinerzeit Göring, neuerdings dem „Chef“ - d.h. dem am 1. 4. 1991 ermordeten Treuhand-Chef Detlev Carsten Rohwedder -, am Ende verbrennt der Paternoster und läutet damit den Exodus der Hauptfiguren aus Deutschland ein. Vgl. WF76, 79, 190, 505, 565, 658, 755, 763.

16 Helmut Koopmann: Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur, In: ders., Hans-Jörg Knoblauch (Hrsg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Stauffenburg 1997, S. 11-30 (29).

17 Vgl. Günter de Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, Frankfurt/M. 1992, S. 371. Nachfolgend „Z“ abgekürzt.

18 Die bereits Anfang der neunziger Jahre erschienenen Auseinandersetzungen mit der DDR sind entweder vorrangig dokumentarischer Art (Erich Loest: Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze, 1990; Rainer Kunze: Deckname Lyrik, 1990) oder sie tragen eindeutig Rechtfertigungscharakter (Hermann Kant: Abspann, 1991) oder sie zeigen - wie Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht - „daß die Zeit zu kurz zur Distanz der Selbstkritik oder der Reflexion ist“. Vgl. Hartmut Steinecke (wie Anm. 2), S. 22.

19 Alle Zitate Günter de Bruyn: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie, Frankfurt/M. 1996, S. 19.

20 Günter de Bruyn: Vierzig Jahre, Frankfurt/M. 1996, S. 231. Im folgenden Text abgekürzt „VJ“.

21 Bei diesem Traum scheint es sich um ein kollektives ostdeutsches Phänomen zu handeln. Vgl. die fast iden-tische Darstellung bei Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma, Stuttgart, 2. Auflage 1996, S. 23: „Nachts träumte ich, diesmal sei alles wirklich, ich würde an mein Ziel gelangen, von dem mich sonst Hindernisse immer gründlicher entfernt hatten, weswegen es schließlich nicht mehr darum ging, die gesuchten Häuser in Steglitz oder Kreuzberg zu erreichen, sondern nur noch zurückzufinden, bevor die Frist verstrichen war.“

22 Günter de Bruyn (wie Anm. 19), S. 48.

23 Martin Walser: Ein springender Brunnen, Frankfurt/M. 1998, S. 323. Im weiteren Text abgekürzt mit „B“.

24 „Die Vorstellung, Vergangenheit könne man wecken wie etwas Schlafendes, zum Beispiel mit Hilfe günstiger Parolen oder durch einschlägige Gerüche [...] ist eine Einbildung [...].“ B 281.

25 Christoph Hein: Von allem Anfang an, Berlin 1997, S. 5. Weiterhin im laufenden Text als „VA“ zitiert.

26 Vgl. „Dialog ist das Gegenteil von Belehren“. Gespräch mit Christoph Hein, in: Klaus Hammer (Hrsg.): Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch, Berlin 1992, S. 11-50 (21).

27 Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene, Frankfurt/M. 1998, S. 17. Nachfolgend im Text „V“ abgekürzt.

28 Vgl. dazu Hartmut Steinecke (wie Anm. 2), S. 25.

29 Die Episode „Büchsen“ wurde auch bereits - in leicht veränderter Gestalt - veröffentlicht in dem Band Berlin zum Beispiel. Geschichten aus der Stadt erzählt von Jurek Becker, Monika Maron, Bodo Morshäuser, Katja Lange-Müller, Ingo Schulze u.v.a., hrsg. v. Sven Arnold und Ulrich Janetzki, München 1997, S. 149-158.

30 Ingo Schulze: Simple Stories. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz, Berlin 1998, S. 226. Nachfolgend im Text mit „S“ abgekürzt.

31 Christoph Dieckmann: Mein Osten heißt Heimat, in: Die Zeit vom 1. 9. 1995.

32 Das bemerkt auch Monika Ritzer: „Es gibt keine andere Welt, es gibt nur eine weitere.“ Realitätsbegriff und Ästhetik bei Botho Strauß, in: Helmut Koopmann (Hrsg.) (wie Anm. 16), S. 127-152 (127).

33 Vgl. die zum Teil schroffen, zum Teil abgewogenen Reaktionen auf den kulturkritischen Rundumschlag des Bocksgesanges in: Weimarer Beiträge 40, 1994, Heft 2.

34 Vgl. Iris Radisch: Der alte Mann, in: Die Zeit vom 12. 8. 1994; Gustav Seibt: Leere Truhen. Die Krise des Botho Strauß, in: FAZ vom 20. 8. 1994; Thomas Assheuer: Das Spiel ist aus [...], in: Frankfurter Rundschau vom 27. 8. 1994. Die einzige deutlich positive Rezension stammt von Joachim Kaiser: Auf einem stillgelegten Bahnhof den Zug erwartend. „Wohnen Dämmern Lügen“ - 37 [sic!] Skizzen von Botho Strauß, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. 8. 1994.

35 Botho Strauß: Wohnen, Dämmern, Lügen, München 1994, S. 166. Im folgenden Text mit „W“ zitiert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
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