Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Immer ist’s ein Vieles“

Insel-Almanach auf das Jahr 1999
Johann Wolfgang Goethe. Zum 250. Geburtstag.

Zusammengestellt von Hans-Joachim Simm.
Insel-Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1998, 243 S.

 

Wer in diesen Monaten die Buchhandlungen durchstreift, wird nicht nur Bücher von und über Goethe sehen, er wird vor Bergen von Büchern stehen, die den Weimaraner, der aus Frankfurt am Main kam, loben, zitieren, exakt edieren, vor allem aber die unzähligen Elemente seines Werkes und seines Lebens in immer wieder neuen Deutungen auszubreiten versuchen. Goethe für alle Gelegenheiten, alles von und alles über ihn, alles und immer noch mehr von Experten, ungezählte Nachrichten aus einer Welt, die weit weg zu sein scheint.

Dem Insel Verlag, berühmt für seine sorgsam ausgewählten Almanache zu historischen Tagen, ist auch diesmal ein lesenswertes Bändchen gelungen. 10 Beiträge von namhaften Literaturwissenschaftlern, unter ihnen Albrecht Schöne, Karl Eibl und Siegfried Unseld, der Anfang der neunziger Jahre mit seinem Band Goethe und seine Verleger neuen Schwung in die Goethe-Welt gebracht hatte. Unselds Text in diesem Almanach ist wiederum einleuchtend und spannend zugleich. Der Verleger spricht eine Sprache, die sofort „Nähe“ schafft, denn er weiß um die heiklen, um die anregenden Momente seines kreativen Geschäfts. „Goethes Produktionsweise“ wird auch ganz nüchtern als Untertitel zu Goethes Wort „Mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens“ genannt. Unseld opponiert zunächst noch einmal heftig gegen literaturgeschichtliche „Falschmünzerei“, wie dies der Amerikaner John Fuegi mit seinem Buch Brecht & Co getan hat. Es geht nicht darum, Prozente und Noten zu verteilen, wenn sich nachweisen läßt, daß Autoren immer auch von Autoren starke Anregungen erhalten haben.

Auch Goethe hat nicht alle seine Mit-Autoren, wie Marianne von Willemer und deren DivanGedichte, genannt. Und ob er beispielsweise Eckermann nun beflügelt oder gar ausgebeutet hat, bleibt eine Frage des Ermessens. Goethe war, daran läßt Unseld keinen Zweifel, „großzügig in der Übernahme der Beobachtungen und Erfahrungen anderer“. Entscheidend bleibt immer, wie er damit verfuhr, und nicht, daß er Anregungen aufgegriffen hat. Nach Goethes Meinung, hat der Künstler „das Recht, ja die Pflicht, das unvollkommen Gebildete als Stoff zu behandeln und es sich anzueignen, als wenn es, von Haus aus, sein gehörte“. Unseld interessiert Goethes „Produktionsweise“, weil hier die Goethe-Forschung, zumeist aus Mangel an Abstand zum Gegenstand und wegen fehlender Erfahrungen im Umgang mit lebenden Autoren, ein wichtiges Thema vernachlässigt hat. Was er dazu beitragen möchte, nennt er bescheiden „Lesefrüchte“. Er entdeckte sie in Dichtung und Wahrheit, hier besonders im Streit um die „Physiognomik“ Lavaters, im historischen Teil der „Farbenlehre“, wo Goethe hervorhebt, wie wichtig ihm war, „Eigenes und Fremdes, unmittelbar und mittelbar aus den Händen der Natur oder von Vorgängern Empfangenes tüchtig zu bearbeiten und einer bedeutenden Individualität anzueignen“. Goethe hat gemeinschaftliches Denken, Arbeiten und Forschen durchaus geschätzt, obwohl dies nicht immer zur Zufriedenheit aller und seiner selbst aufging. So hat er es dem Göttinger Experimentalphysiker und satirischen Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg nie verziehen, daß der seine Forschungen zur Optik nicht gebührend beachtet hatte.

Zum Schluß seines Beitrages zitiert Unseld Goethe, und auch das ist eine schöne Lese-Frucht: „... Kein Lebendiges ist ein Eins, / Immer ist’s ein Vieles.“ Albrecht Schöne, der vor Jahren ein vorzüglich geschriebenes Buch über Goethes Farbenlehre veröffentlicht hat, untersucht, anhand sehenswerter Bildbeispiele, das „Kollektivwerk Faust“. Nicht alles wird in diese Betrachtung einbezogen, im Mittelpunkt stehen Mediziner und Naturwissenschaftler als Mitarbeiter an „Goethes Weltspiel“. Das Wort vom „Kollektivwesen“ hat Goethe wenige Tage vor seinem Tod gegenüber Frédéric Soret ausgesprochen, es hat indessen Scharen von Deutern Brot und Ruhm gebracht. Die Entdeckung des Zwischenkieferknochens veranlaßte den Jenaer Anatom Loder zu der euphorischen Bemerkung, er bedauere es in vollem Ernst, daß Goethe „Minister und nicht Professor anatomiae“ geworden sei. Zumeist war es jedoch umgekehrt, Goethe nahm mehr von Medizinern und Naturwissenschaftlern auf, als er ihnen geben konnte.

Nicht minder anregend liest sich der Beitrag von Katharina Mommsen: „Goethes Lebenskunst“, der diesen Almanach eröffnet. „Das, was Du lebst, ist besser, als was Du schreibst“, meinte einst der Darmstädter Jugendfreund Merck zu Goethe. Ein Spruch, eine Formel, aber eine Wahrheit, die es hier zu untersuchen galt. Stimmiges oder Unstimmiges in Leben und Werk Goethes findet sich genug, so viel, daß noch Generationen von Deutern Gelegenheit für Spiele und Thesen, für Interpretationen und Assoziationen finden werden. Goethe, ein „Genie in der Kunst des Lebens?“ fragt die Autorin. Sie schränkt das Pathos doch etwas ein, denn „Goethes Kunst zu leben war so komplex wie das Leben selber.“ Das freilich ist dann schon wieder ein Gemeinplatz, anzutreffen unendlich viele Male auf diesem weiten, gar zu weiten Feld der Künste und des Lebens.

Als Lese-Buch ist dieser Goethe-Almanach eine Fundgrube. Er bringt Bekanntes und Unbekanntes, Vertrautes und Peripheres. Wie immer bei einem Mann, der zu oft nur noch der „Klassiker“ genannt wird. Daß auch sein Geburtstag einer Betrachtung wert ist, paßt gerade ins Jahr 1999. Christoph Perels dokumentiert noch einmal, daß dieser Tag im Sinne Goethes auch ein stiller, also einer ohne großen Pomp sein sollte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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