Eine Rezension von Sebastian Kiefer


„Aus seinen Worten verbreitet sich der Wüstenwind Chamsin ...“

Angel Wagenstein: Pentateuch oder Die fünf Bücher Isaaks
Über das Leben des Isaak Jakob Blumenfeld in zwei Weltkriegen, drei Konzentrationslagern und fünf Heimaten.

Aus dem Bulgarischen von Barbara Müller.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1999, 256 S.

 

Angel Wagenstein ist, wie der Name sagt, Jude. Er ist, was der Name nicht sagt, Bulgare. Er ist, was bei uns keiner weiß, schon längst über die Siebzig hinaus und Autor einer stattlichen Reihe erfolgreicher Drehbücher zu Arbeiten von Wolfgang Staudte und auch zum hochdekorierten Film „Sterne“ von Konrad Wolf, der eine Zeitlang ein Studienkollege an der Filmhochschule war.

Erlebt hat er fast alles, was ein Jude aus der osteuropäischen Kleinstadt nur erleben kann, frühe Emigrantenjahre in einer westeuropäischen Metropole, den Kampf gegen die Faschisten im Untergrund Sofias, den Verrat und das Straflager, die Flucht daraus und wieder den Partisanenkrieg, die Folter, ein hundertzwanzigtägiges Warten in einer Dunkelzelle auf die Exekution. Erlöst hat ihn die siegreiche Rote Armee. Der Sowjetunion hielt er einige Jahre die Treue und studierte in Moskau Filmdramaturgie. Das blieb sein Metier bis heute, nur in jüngster Zeit hat er einen Seitensprung gewagt und schrieb einen Roman. Einen Roman, der genauso augenzwinkernd altmodisch ist wie sein ellenlanger Titel und genauso jüdisch. Und also sind das Wichtigste an der Geschichte die Abschweifungen („aber das war nicht, was ich eigentlich erzählen wollte“ heißt es immer bei Wagensteins großem Vorbild Scholem Aljechem), die Umwege, die eingelegten Schnurren, die orientalisch kräftigen Gleichnisse und Bilder („Aus seinen Worten verbreitete sich der Wüstenwind Chamsin, und zwischen meinen Zähnen“), die Chochmas, Histörchen vom Rabbi soundso und von Mendel, dem Tölpel, und natürlich von den Juden selbst. Von ihrer fatalen Schwäche zur Rechthaberei zum Beispiel, die schon für die alten Talmudisten vom Babylonischen Synedrion die Lösung des Rätsels war, weshalb Jehova die Menschen erst am sechsten Tage erschaffen hatte (wären Adam und Eva früher dagewesen, hätten sie ihren Schöpfer konfus gemacht mit ihren Ratschlägen). Im Sinai-Krieg machte sie Tausende von Schildern notwendig. Für jeden Soldaten eines, darauf zu lesen stand: „Während der Attacke ist es strengstens verboten, dem Oberkommandierenden Ratschläge zu erteilen!“ Oder die von Mund zu Mund gehenden tiefsinnigen Scherzallegorien von den Grenzen der Vernunft und der Pädagogik wie die vom blinden Jossel, der vom Rabbi wissen will, wie das aussieht, was er da gerade in sich hineinschlürft, diese „Milch“:
„Na, das ist so eine weiße Flüssigkeit.“
„Was bedeutet ,weiß‘?“
„Nun ... weiß wie ein Schwan.“
„Was ist ein ,Schwan‘?“
„Das ist so ein Vogel mit gebogenem Hals.“
„Was bedeutet ,gebogen‘, Rabbi?“
Der Rabbiner winkelte seinen Arm im Ellenbogen an: „Hier, faß mich an, und du wirst verstehen, was ,gebogen‘ bedeutet.“ Der blinde Jossel tastete den Arm aufmerksam ab und sagte schließlich dankbar: „Danke, Rabbi. Nun weiß ich, wie die Milch aussieht.“

Die Abweichungen also sind das Wichtigste, oder sagen wir, sie sind das Salz in der Suppe. Auch die ist vom Allerfeinsten, mal derb, mal anekdotisch, mal didaktisch angerührt in einem quasi-mündlichen Plauderton, den der Autor durch den ältesten Trick der (Roman-)Welt legitimiert: Er beteuert, nicht Urheber, sondern Herausgeber der Geschichte des Isaak Jakob Blumenfeld aus Kolodez im Kreise Lemberg zu sein, braver Schneidersleute Kind, der mit Glück und Schelmerei zwei Kriege, Arbeitslager, Konzentrationslager, deutsche und sowjetische, einen dreimaligen Wechsel des Vaterlandes, den Partisanentod seiner Kinder und den Gastod seiner Frau übersteht und bei allem, was der Herrgott ihn solcherart gelehrt über die Natur des Menschen, seinen (jüdischen) Humor nicht verliert. Einen Humor, der das Gegenteil des käuflichen Spaßes von heute ist - ein Witz, der Leben bewältigt und Leben schafft, der Weisheit in kunstvollen Kleinformen von Generation zu Generation weiterreicht.

Wagenstein lädt seinem Isaak also alles auf, was er selbst am eigenen Leib erfuhr, und noch ein wenig mehr. In guter Schelmentradition ist er die Inkarnation des gesunden Menschenverstandes und als solche ein ironischer Spiegel der Herren dieser Welt von ganz unten gesehen. Isaak springt eines Tages, irgendwann im November 1918, eilig von der Latrine der Kaserne, in der man aus ihm, dem eben volljährig Gewordenen, mit mäßigem Erfolg einen brauchbaren Rekruten seiner Majestät des Kaisers von Gottes Gnaden machen will. Es ist der Tag vor der ersten Feuertaufe an der Front, es grimmt daher nur zu verständlich in der Magengegend. Morgen naht die große Stunde, erläutert der weise und natürlich kaiserbärtige Oberst Schauer, da die Neulingsschar endlich „mit einem kraftvollen Hurra unsere Bajonette in die Brust des niederträchtigen Feindes“ stoßen werde, man könne die Lorbeerkränze förmlich schon jetzt ihre Häupter zieren sehen. Nur weniges in der Welt könnte den Isaak also aus dem schützenden Abseits in der Latrinenbaracke bringen. Das Wenige aber kommt vorbei, und zwar in Gestalt eines älteren Herrn mit ungarischem Akzent, und der bringt das Unausdenkliche, die Nachricht vom Waffenstillstand. Isaak stürmt nach draußen, weiß nicht, wie er gleichzeitig vor dem Feldwebel salutieren („Bist du aber süß“, zirpt der wangetätschelnd Isaak ständig zu und läßt ihn sich dann in den Dreck werfen) und sein in der Eile noch nicht heraufgeholtes Beinkleid arretieren soll. Die frohe Botschaft „bahnte sich nur langsam einen Weg durch den geheimnisvollen und unerforschten Dschungel seines Gehirns.
,Ist das sicher?‘
,Vollauf, Herr Feldwebel!‘
Auf einmal strahlte er.
,Wir haben also gesiegt?‘
Ich strahlte nun ebenfalls.
,Nein, Herr Feldwebel, wir haben verloren.‘
Er stutzte für kurze Zeit, dann kniff er mich auf seine unübertreffliche Art in die Wange. ,Bist du aber süß! Ich liebe die Juden, und eines Tages werde ich Großes für sie tun!‘ Er erwies sich wirklich als ein Mann und hat Wort gehalten. Jahre später begegnete ich ihm im Lager Flossenbürg in der Oberpfalz, wo er Sturmführer war.“

So einfach ist das. Oder sieht es jedenfalls aus. So einfach und doch - so lotst Wagenstein seinen Isaak auch durch die Fährnisse der Diktaturen. Mag sein, hier, in den dunkelsten Regionen des Jahrhunderts, wird es dem einen oder anderen zu viel des Märchens vom Toren, der ganz gegen seinen Willen auszog und kaum je einmal das Fürchten lernte. Doch ist alles so gekonnt und gescheit geplaudert, daß man Isaak, dem die Tuchfühlung mit den Leichentürmen des KZ keineswegs erspart bleibt, nichts übelnehmen kann.

Wenn man dieser hochgescheiten und kurzweiligen späten Frucht vom Stamme des Aljechem und des Efraim Frisch etwas übelnehmen kann, dann nur seiner deutschen Version. Nicht der Übersetzung, bewahre, die springt wunderbar gelenkig zwischen den oft - gemessen an der doch eher schlichten Gemütslage des Helden - reichlich pompösen Epitheta und Metaphern einerseits und dem saloppen Umgangston andererseits hin und her: „Es hieß, daß Kuddelmuddel dieser Art auch bei uns und in Deutschland eingerührt werde. Wie das ferne Echo eines Gewitters, das irgendwo hinter den Bergen niedergegangen war, hatten uns zuvor schon Gerüchte [...] erreicht.“ Nein, ärgerlich ist an diesem Buch nur, daß es keine bessere Verpackung gefunden hat. Nicht nur, daß den Rücktitel ein Zitat ziert, das entstellend gekürzt wurde und gar nicht von Wagenstein ist (sondern von Aljechem). Man würde, wäre der elektronische Datenstreifen nicht darauf, den Umschlag unbesehen für ein Relikt der 70er Jahre halten. Umschläge aber sind etwas wie die Haut des Buches, die zu Markte getragen wird. Nur durch sie kann das Buch zu den Willigen in der Bücherstube sprechen, wenn es, wie im Falle Wagenstein, ohne Lobby in der Kritik und ohne Beistand aus den Anzeigenteilen seinen Mann stehen muß. Entstellt durch eine solche Verpackung, wird Wagensteins wunderbares Buch - das einzige, das man aus dem Schwerpunktland Bulgarien auf der in der Nachrichtenflut aus dem Kosovo untergegangenen Leipziger Buchmesse überhaupt wahrnahm - es doppelt schwer haben. Das ist eine verlegerische Sünde, mit keiner hehren Absicht auf Anpassungsverweigerung an Marktgesetze zu entschuldigen. Natürlich, Leser, die es mit Wagenstein trotz demodierter Hülle versuchen, werden reichlich entschädigt. Dafür sei dem Verlag gedankt, auch für die Illustrationen Anri Koulevs, die eine feine Sitte des untergegangenen sozialistischen Leselandes in unsere Zeit hinüberretten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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