Eine Rezension von Helmut Hirsch


Alles Theater

Peter Turrini: Die Verhaftung des Johann Nepomuk Nestroy

Eine Novelle.

Luchterhand Literaturverlag, München 1998, 76 S.

 

Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862), Opernsänger, Schauspieler und satirischer Stückeschreiber, wird immer wieder als Possenreißer und Spaßmacher vorgestellt. Aber der Mann, der seine „Wortbarrikaden“ gegen „die Herrschaft der Banalität“ richtete, war voller Ernst. Karl Kraus hat 1912 zum 50. Todestag des Dichters Nestroy von dem Schuldbekenntnis gegenüber Nestroy geschrieben, das „wir Insassen einer Zeit, welche die Fähigkeit verloren hat, Nachwelt zu sein“, tragen müssen. Die Nachwelt und auch das zu Ende gehende Jahrhundert „wiederholt seinen Text und kennt ihn nicht; sie lacht nicht mit ihm, sondern gegen ihn...“

Der österreichische Dramatiker Peter Turrini läßt Nestroy in seiner Novelle Die Verhaftung des Johann Nepomuk Nestroy nicht zur Ruhe kommen. Nestroy wird als ein Gejagter gezeigt, als einer, der ständig zwischen Komödie und Tragödie hin und her getrieben wird, das eine (den Spaßmacher) abstreifen will und das andere, den Tragöden, erreichen möchte. Bühne und Alltag, Komik und Tragik, Ehefrau und Geliebte, Polizeispitzel und Theaterdirektoren, immer sind es Gegensätze, die Nestroy treiben, von Rolle zu Rolle. Turrini hat aber beschlossen, seinen Nestroy aus den beständigen Turbulenzen herauszuführen. Er träumt den Weg ins ernste Fach, das heißt, den Weg zum Burgtheater. Dem Burgtheaterdirektor Johann Ludwig Deinhardstein kündigt Nestroy an, daß er in Kürze sein Stück „Lumpazivagabundus“ aufführen werde, eine Komödie, in der er die Hauptrolle spiele, „aber an einer bestimmten Stelle werde sich das Blatt ins Tragödische wenden“.

Es ist nicht nur Biedermeierzeit, es ist auch die Zeit Metternichs, und in Wien will man lachen. Nestroy aber hat genug der Possen und Faxen auf der Bühne, jetzt soll es ernst werden mit ihm und mit seinem Theater. Wohl weiß er, daß in jeder Vorstellung im Theater an der Wien, wo er so viel gespielt hat und nun nicht mehr möchte, regelmäßig die Polizeispitzel herumschnüffeln. Auch übt er sich regelmäßig in dem Ritual am Schluß, wenn der Beifall ihn überhäuft, noch eins draufzugeben, indem er die Hose runterläßt, Publikum und Spitzeln den Arsch zeigt. Nestroys Stimme, die in dieser Novelle selten spricht, verkündet einmal: „Ich bin der lustigste und ärmste Kerl von Wien.“ Lustig mußte er sein, weil das Publikum es verlangte. Arm blieb er, weil seine Geliebte, die kalte und berechnende Demoiselle Weiler, es so wollte. Abhängig von Theaterrollen und eingezwängt in die des Lebens, rumort es im Kopf des komödiantischsten Dichters, den Wien je erlebt hat. Peter Turrini treibt seine Figur unerbittlich einem fiktiven Verhängnis in die Arme. Er spielt wie ein Regisseur mit der Figur seines Nestroy, und er verspielt damit einiges. Denn er kehrt nur den gespaltenen, den hochgradig mit sich selbst unzufriedenen Menschen hervor. Nestroy spricht: „Ich bin kein Mensch, ich bin nicht einmal ein zweigeteilter Mensch, ein Zwitter, ich bin eine Menschenversammlung. Ich hab’ so viele Menschen in mir versammelt, und keiner mag den anderen.“

So kommt, was in dieser zugespitzten Konstellation kommen muß. Nestroy spielt sehr gut, sehr überzeugend, denn der Burgtheaterdirektor sitzt in der Loge. Doch die kalte und hinterlistige Demoiselle Weiler hat wieder die Polizeispitzel ins Theater geholt. Während Nestroy mit großer Ausdruckskraft und ernst wie noch nie seinen Monolog spricht, nimmt ein störendes Raunen hinter der Bühne seinen Lauf. Als er die Theaterpolizisten vor sich sieht, vergißt er seine Rolle. Nach dem Willen Turrinis vergißt er sogar alles, auch „seine übergroße Sehnsucht, wieder ein Tragöde zu werden, den ganzen ernsten Monolog, seinen geplanten Aufstieg zum Burgschauspieler, sich selbst“. Keiner Rolle und keiner Hoffnung mehr mächtig, dreht er durch, zerrt die Spitzel auf die Bühne, beschimpft sie (was noch ein Rollenspiel wäre) und alles, was ihm in den Sinn kommt: „die Gegenwart, den Staat, das Kaiserhaus, die gesamte Obrigkeit“. Das Publikum (als wär’s schon von heute) hält alles für ein Spiel, applaudiert, johlt. In Handschellen zerren die Theaterpolizisten den überdrehten, nun ganz und gar aus allen Rollen gefallenen Nestroy ab.

Außer dieser Handlung lernt der Leser hier noch allerlei Figuren und Klischees aus der Theaterwelt kennen. Doch richtig warm wird man mit alledem nicht, denn alles ist Theater. Eine „unerhörte Begebenheit“ (Goethe) mag das sein, jedoch gebricht es der sachlichen Erzählung an Dringlichkeit. Turrini schreibt von der ersten bis zur letzten Seite im Ton unterkühlter Distanz. Karl Kraus sah schon 1912 mehr in Nestroy, und das Szenario frappiert noch heute: „Er geht antizipierend seine kleine Umwelt mit einer Schärfe an, die einer späteren Sache würdig wäre. Er tritt bereits eine satirische Erbschaft an. Auf seinen liebenswürdigen Schauplätzen beginnt es da und dort zu tagen, und er wittert die Morgenluft der Verwesung. Er sieht alles das heraufkommen, was nicht heraufkommen wird, um dazusein, sondern was dasein wird, um heraufzukommen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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