Eine Rezension von Bernd Heimberger


Mein Gott - Goethe!

Wolfgang Herwig (Hrsg.): Goethes Gespräche

Biedermannsche Ausgabe. In sechs Teilbänden.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998

 

O Gott, o Gott, mein Gott, Goethe! Auf Weimar wälzt sich eine Woge zu. Zum Wohle des Herrn illuminiert die Stadt seinen Heiligenschein. Das Trommeln und Trällern schwillt an und wird Anno 99 nicht nur den Deutschen auf den Docht gehen. Bis uns der ganze Goethe wieder zum Halse heraushängt? Wie damals, in der Zehnten, als der Deutschlehrer „Willkommen und Abschied“ durch den Interpretationswolf drehte. Goethe also bis zum Überdruß? Und das schon vor dem 28. August? Was tun? Weghören? Wegsehen? Wegdrehen? Oder Goethe gelten lassen, was Goethe ist? Ein Genießer. Ein Ungenießbarer. Einer, der Klatsch genoß. Der kein Laberarsch, Quatschkopf, Lästermaul, Nieselpriem, Miesepeter war. Was erst noch zu beweisen wäre? O, mein Gott, Goethe, was ist aus dem computerisierten Volk der Dichter und Stänker geworden? Den Goethe, der zur Goethe-Zeit den Zeitgenossen wahrlich nicht am Götz von Berlichingen vorbeiging. Goethe war immer gut für Gespräche. Gespräche waren Goethe das halbe Leben, mit denen er das halbe Leben füllte. Man könnte auch sagen: Führte! Um große, großartige Sätze anzustiften, auszuteilen oder billigend einzustecken.

Für jedermensch leicht zugängliche, vergnügliche Sätze wie: „Die Weiber muten an, die Männer muten zu.“ Und: „Die Männer hassen einander wegen der Meinung. Die Frauen wegen der Erscheinung.“ Schöne, wahre Trivialität! Die uns der Sohnemann-Erzieher Riemann einträufelte, den Goethe gern respektierte. Laut Riemers Verlautbarung! Die wer wagt in Zweifel zu ziehen? Ne Menge von Riemers und Goethes Mund-zu-Mund-Geplaudere ist in dem fünfbändigen Druckwerk, das in sechs Teilbänden Goethes Gespräche zelebriert. - „Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann. Ergänzt und erweitert von Wolfgang Herwig.“ Als „Biedermannsche Ausgabe“ bekannt, ist sie alles andere als eine billige und biedere Sache. So billig wie heute war sie noch nie zu bekommen. Für sämtliche Stände, Schichten, Bildungsstufen. Für Goethe-Verächter, Goethe-Verehrer, Goethe-Veredler, Goethe-Verdrossene, Goethe-Verstoßene, Goethe-Vergewaltigte... Mein Gott, wie irdisch der Göttliche! Alles Geschwafel, Gerede, Geplausche zusammengenommen. Goethe war 82 Jahre und 7 Monate hier. Der Gesprächsfaden ist bis heute nicht gerissen. Du meine Güte, was für ein Knäuel! Läßt sich ordentlich was stricken.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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