Eine Rezension von Bernd Heimberger


Potential eines Poesiealbums

Katrin Pieper (Hrsg.): Poesiealbum. 1967-1990
Dichter aus jenem Land - mit Gedichten aus jener Zeit.

Verlag Neues Leben, Berlin 1999, 191 S.

 

Es ist schon viel versäumt. Es wird noch viel versäumt werden. Als im Spätherbst 1996 die Nachricht lanciert wurde, daß das Poesiealbum wiederkehrt, gackerte, geiferte, greinte das deutsche Feuilleton. Gift und Galle wurde gespuckt. Von Duplikat und Diebstahl sprachen am schnellsten, häufigsten, lautesten die, die zuvor nicht mal wußten, welches Poesiealbum gemeint war. Wäre das Angekündigte nur Duplikat und nur Diebstahl gewesen, welch ein Duplikat, welch ein Diebstahl!

Bernd Jentzsch, Lyriker und Lektor im Ostberliner Verlag Neues Leben, profitierte von der staatlich forcierten und hochgepeitschten „Lyrikwelle“ in der gerade eingemauerten DDR. Als die von der einzigen Jugendorganisation mitlancierte Lyrikwelle verebbte, bot Jentzsch der Idee Asyl unterm Dach des Jugendbuchverlages. Aus der Kampagne wurde Kontinuität. Die „Lyrikwelle“ bekam eine feste Form im Poesiealbum. Eine Publikations-Reihe, die, wunschgemäß, „der Jugend auf populäre Weise wertvolle Dichtung der Vergangenheit und Gegenwart, besonders aber auch die neue sozialistische Lyrik der DDR“ bekannt machen sollte. Im Laufe eines knappen Vierteljahrhunderts wurde in 275 Heften Lyrik sämtlicher Weltkulturen unter die Leute gebracht. Stets im gleichbleibenden Umfang von 32 Seiten. Stets in gleichbleibender Ausstattung, das heißt mit doppelseitiger Graphik. Stets zum gleichbleibenden Preis von neunzig Pfennig. Stets in Zehntausenderauflage. Die DDR leistete sich Lyrik. Die DDRler leisteten sich das Poesiealbum und leisteten es sich, Lyrik zu lesen.

Vom „Poesiealbum“ in Deutschland zu sprechen hieße, über schon Versäumtes und fortgesetzte Versäumnisse zu sprechen. Die 1967 von Bernd Jentzsch begründete Reihe ist in ihrer Art ein einzigartiges Ereignis in der deutschen Verlagsgeschichte. Weil das Poesiealbum da war, verloren Generationen von DDR-Bürgern die Lyrik nicht aus dem Blick. Die Brüder und Schwestern aus dem deutschen Westen, die mit ihrer Schulklasse den obligaten Ostberlin-Tag absolvierten, investierten manche Zwangsumtausch-Mark ins Poesiealbum. Das war überall greifbar. An Zeitungskiosken ebenso wie in allen Buchhandlungen. „Am besten ist ein Abonnement bei der Deutschen Post“, empfahl der Verlag, als sei’s die selbstverständlichste Sache der Welt. Lyrik im Abonnement! Lyrik frei Haus! Poesie ohne Portogebühren! Wo gab’s denn das! In der DDR!

Gibt es ein Geheimnis für den Erfolg des Poesiealbums. Es gibt kein Geheimnis. Die stimmige Korrespondenz zwischen Poesie, Publikation, Preis und Publikum sicherte den anhaltenden Zuspruch. An den Erfolg anzukoppeln, wär’ wahrlich keine Schande. Den Versuch des Galrev Verlages und der Connewitzer Verlagsbuchhandlung zu diffamieren, die 1997 mit den Poetischen Boegen in die Fußstapfen des Poesiealbum treten wollten, war dumm und dreist. Scheitern mußte er, weil die förderliche Korrespondenz fehlte. Das Schicksal wird auch jenen hessischen Verleger ereilen, der jüngst mit einer kompletten Kopie des Poesiealbum auftauchte. Am Pranger stehen wird er als linkischer Räuber. Alle Rechte am Poesiealbum gehören dem zum Medienverband der PDS gehörenden Verlag Neues Leben. Spät, nicht zu spät, hat er von seinem guten Recht Gebrauch gemacht und sich um die Wiederverwendung des Potentials Pesiealbum gekümmert. Nicht provozierend, doch prononcierend bietet der arg geschrumpfte Verlag den Band Poesiealbum 1967-1990. Dichter aus jenem Land - mit Gedichten aus jener Zeit an. Man meint, Nachtigallen trapsen zu hören. Man meint, die Gedichte zu sehen, die als Garnitur zur Geschichte des Landes da waren, dessen Name selten vollständig ausgesprochen wurde. Aufkommender Unmut ist völlig unbegründet. Niemand muß noch einmal die Stilblüten der Agitproplyrik der DDR pflücken. Davor bewahren Namen wie Arndt und Bobrowski, Brecht und Becher, Hacks und Hermlin, Kunert und Kunze, Kirsten und Mickel. Neunzig Nummern des Poesiealbum wurden von den Lyrikern des Landes besetzt. Sie vollständig zu versammeln war offenbar nicht beabsichtigt. Zumindest ist das den auffallend zurückhaltenden Äußerungen der Herausgeberin Katrin Pieper zu entnehmen, die das Geburtsjahr der Reihe fälschlich auf das Jahr 1969 datiert. Die Auslassungen haben Gründe. Nicht alle Anschriften aller Autoren waren ausfindig zu machen. Das sagt einiges. Andere Autoren waren nicht willig, sich aufs Gruppenporträt zerren zu lassen. Das sagt mehr. Lange und vergeblich wird man nach Bernd Jentzsch Ausschau halten. Das sagt alles. Das Nebeneinander von Nicht-Dichtern und Lyrikern, Auch-Lyrik und Dichtung erzählt, wie leichtfertig geistige Grenzen in den Grenzen des Landes gezogen wurden und wie durch wen wieder entgrenzt. Das lesend, so herausgelesen, gibt’s manches gute und starke Stück Dichtung aus der DDR, das getrost ins Poesiealbum der deutschen Literatur eingetragen werden kann. Das Unvollständige hat genug Vollständigkeit. Nicht jeden Vers vollends zu beachten heißt, mehr Zeit fürs Betrachten der Graphiken Made in GDR zu haben, die das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Wer auf der Suche nach der sozialistischen Nationaldichtung der DDR ist, ist auf dem Holzwege, auf dem die waren, die sie deklarierten. Da es Dichtung ist, rühmenswert wie die Reihe „Poesiealbum“, reicht’s, um den Sammelband eine Sammelstätte der Dichtungen und Dichter der DDR zu nennen. Eine Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen? Auch!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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