Eine Rezension von Ina Schiller


Das Eigene bewahren, oder Träume stehen im Konjunktiv

Eva Kelch: Heidrun Schwarzwasser

Roman.

ULTIMO-Verlag, Berlin 1998, 2 Bände, 556 S. und 596 S.

 

Geschichte erscheint uns zunächst als etwas Abstraktes, erst durch den Lebensatem einzelner Menschen in ihrem Zeitstrom wird sie lebendig. „Man wird nicht müde, Biographien zu lesen ..., denn man lebt mit Lebendigen“, schrieb einst Goethe. Es scheint dabei, als hätten Menschen ihre eigene Lebensformel, die ihr innerstes Wesen offenbart. Dies ist spürbar in dem Romandebüt von Eva Kelch über das Schicksal der Heidrun Schwarzwasser. Nomen est omen?

Heidrun erlebt als Kind mit ihrer Mutter die Bombenangriffe in Berlin, Vater ist im Krieg. Ihre starke Liebe zur Musik läßt sie von einer Laufbahn als Pianistin träumen. Nach Kriegsende will sie anschließend an das Abitur Musik studieren, doch die Mutter und deren einflußreicher Freund sowie ihr Vater zwingen sie zur Arbeit in der Verwaltung. Widerwillig fügt sich Heidrun. Mit der ihr eigenen Besessenheit und Gründlichkeit gilt sie bald als vorbildlich und wird in die Handelsvertretung der DDR nach Moskau delegiert. In diesen Jahren muß sie auch den Verlust ihrer ersten Liebe verwinden.

Dann verliebt sie sich leidenschaftlich in einem jungen russischen Dolmetscher. Doch nach ihrer Rückkehr in die DDR erleidet sie einen tiefen Einbruch, gewissermaßen die Zerstörung ihrer Hoffnungen und Träume. Ihre Liebe zur Musik wird ihr nämlich zum Verhängnis. Von einem Westberliner Rundfunksender erhält sie Programme zu Opernübertragungen. Plötzlich wird Heidrun deshalb in den Augen fanatisch-engstirniger Funktionäre zu einer Klassen- und Staatsfeindin. Fristlos entlassen, steht sie vor einem Zusammenbruch. In der Produktion soll sie sich „bewähren“.

Den „neuen Anfang“ schildert Band 2 des Romans. Packend ist dargestellt, wie schwere, ungewohnte Arbeit in einem Betrieb die junge Frau zunächst an den Rand der Verzweiflung treibt. Aber da sind, für Heidrun unerwartet, Menschen, die ihr mit Geduld und Verständnis entgegenkommen und ihr helfen: Meister Kott, Schichtleiter Peter und andere. Ein Kontrast zu den dogmatischen, mißtrauischen, staatstragenden Machthaber-Typen tut sich auf. Heidrun erfährt: Es gibt noch menschliche Anständigkeit, Güte und Kollegialität.

Die Autorin, Jahrgang 1935, gestaltet hier typische Widersprüche im gesellschaftlichen Leben der DDR und zeigt Verhaltensweisen, fern von ideologisch geprägten Prämissen. Sie demonstriert überzeugend, wie sich enge menschliche Beziehungen herausbilden und sich Solidarität über die sogenannten Klassenschranken hinaus bewährt. Vor allem da, wo die Lebensumstände nicht ausschließlich von dogmatischen Prinzipien geprägt sind. In der gegenwärtigen Zeit des zunehmenden Verfalls ethischer Werte, wo alle Leistungen und Handlungen nur daran gemessen werden, ob sie „sich rechnen“, können solcherart Erfahrungen andere Aspekte zeigen und Denkanstöße geben.

Die Romanheldin betreibt nach einem Unfall ihre autodidaktischen Musikstudien weiter und schreibt Sängerporträts. Dadurch erregt sie die Aufmerksamkeit des weltbekannten Intendanten und Regisseurs eines Berliner Opernhauses. Sie wird dessen enge Mitarbeiterin. Eine faszinierende Szene künstlerischer Arbeit und Ausstrahlung eröffnet sich ihr. Konkrete Einblicke in das Geschehen hinter den Kulissen, Rivalitäten der Künstler untereinander, dramatisch ablaufende Proben, hohe musikalische Kunst und eine neue unerfüllbare Liebe zu einem ausländischen Sänger bestimmen nun ihr Leben. Hart empfindet sie die Kluft, die sich zwischen der Erlebniswelt physisch arbeitender Menschen und der Kunstszene auftut. Heidrun möchte mithelfen, sie zu überwinden.

Aber dann kommt in der DDR die sogenannte Wende. Heidrun wird arbeitslos und durchleidet alle Qualen dieses Daseins. Eine schwere Krankheit der Mutter stellt sie vor neue Anforderungen. Aufopferungsvoll pflegt sie die Mutter. Doch die Zerstörung ihrer Lebensträume und Illusionen, das Leben ohne Perspektive stürzen sie in einen existentiellen Grenzzustand. „Aber jede gelebte Illusion ist ein Faktum“, schrieb Romain Rolland. Schließlich siegen die Liebe zur Mutter, das Bewußtsein dieser großen menschlichen Verpflichtung in Heidrun; sie wendet sich wieder dem Leben zu.

Die Protagonistin wird als ein Mensch voller Extreme geschildert. Gefühlvoll, doch mit klarem Blick für Realitäten. Eine Frau, die mit bemerkenswerter innerer Tapferkeit wechselvolle Situationen, Krisen und schwere Zumutungen meistert. Trotz wiederholt zerschlagener Ideale und Hoffnungen ist sie zutiefst erfüllt von der Überzeugung, daß der Mensch sich immer als solcher bewähren muß - er muß „aufrecht stehen, nicht aufrecht gehalten werden“, wie einst Marc Aurel forderte.

Mit bemerkenswerter gestalterischer Gewandtheit, ohne stilistische und sprachliche Modernismen hat die Berliner Journalistin Eva Kelch die Lebenswirklichkeit und das gesellschaftliche Umfeld der Heldin gestaltet, gewissermaßen stellvertretend für viele Frauen in der DDR. Der Spannungsbogen zwischen dem zeitgeschichtlichen Alltag und den Idealen der Menschen wird deutlich gezogen. Dabei hat die Autorin eigene Erfahrungen und Beobachtungen meisterhaft künstlerisch vertieft und phantasievoll verarbeitet. Überzeugende psychologische Charaktergestaltung, innere Spannungselemente und dialogreiche Szenen erhöhen das Leseerlebnis. Das Leitmotiv von einem Leben nach einer inneren Lebensformel und das Bewahren traditioneller Werte machen das Buch besonders lesenswert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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