Eine Rezension von Bernd Heimberger


Solistin ohne Stabilität

Margret Gottlieb: „... als wär jeder Tag der letzte“
Brigitte Reimann.

Econ & List Taschenbuch Verlag, München 1999, 240 S.

 

Man mußte nicht von Brigitte Reimann berührt werden, um berührt zu sein. Die körperlichen Bewegungen der Brigitte Reimann hatten etwas Berührendes, denn sie hatten etwas mit der geistigen Regsamkeit der Schriftstellerin zu tun. Die schnell geäußerten, schnell zugänglichen Gedanken der Reimann haben in der DDR mehr Menschen berührt als viele andere ortsansässige Autoren. Die Berührung dauert an: ein Vierteljahrhundert nach dem Tode von Brigitte Reimann, ein Jahrzehnt nach dem unaufhaltsamen Niedergang der DDR. Wer hätte das erwartet? Niemand! Auch nicht die Autorin, die nun alle aufrichtiger, ehrlicher, leidenschaftlicher sehen als die Verfasserin der Erzählungen Ankunft im Alltag und Die Geschwister sowie des unabgeschlossenen „Unglücksbuches“ Franziska Linkerhand Der Briefwechsel mit dem Architekten Hermann Henselmann und Christa Wolf, die jetzt aufgelegten beiden Tagebuch-Bände lassen eine einzigartige Annäherung an eine Autorin aus der DDR und die Geschichte der DDR zu. Deshalb die Reimann-Renaissance? In Deutschland ist Brigitte Reimann ein Ereignis für Deutschland! Das hat sie allen voraus. Das hätte ihr gefallen. Dennoch ist die Frage nicht völlig unpassend: Wer ist Brigitte Reimann?

Birigitte Reimann ist, was ihre stark autobiographisch akzentuierten Bücher und insbesondere die Selbstzeugnisse sind. Sie sind heftige persönliche Bekenntnisse eines Lebens in der DDR. Das ist das Berührende. Ist dem überhaupt etwas hinzuzufügen, was mehr über Brigitte Reimann und ihre Zeit sagt, als Brigitte Reimann aufgeschrieben hat? Nichts? Absolut nichts? Das würde bedeuten, Brigitte Reimann als einzige Kronzeugin für Brigitta Reimann zu akzeptieren. Wer zeugt besser für Reimann als Reimann? Wer wäre berufener?

Alle, die die Biographie der Schriftstellerin genauer kannten, werden vorsichtig sein. Dennoch: Es gibt einen Mann, dem, aus vielen guten Gründen, zuzutrauen ist, mehr über Brigitte Reimann zu sagen, als sie selbst zu sagen bereit war. Doch Siegfried Pitschmann, ein sprachstrenger Schriftsteller und der zweite Ehemann der Reimann, ist kein Mensch, der irgendeinem Erfolg hinterherhechelt. Von ihm ist also keine Biographie zu erwarten. Wenn Pitschmann bereit ist, sich für eine Reimann-Biographie fünf Stunden ausquetschen zu lassen, so ist die Geste Grund genug für Margret Gottlieb, die erste Reimann-Biographin, Pitschmann wieder und wieder, direkt wie indirekt, für das Mittun zu danken. Ohne Pitschmann wüßte auch sie nicht viel mehr, als alle wissen, die Reimanns Bücher, Briefe, Tagebücher kennen. Für eine Biographin wäre das eine Idee zu wenig. Grundsätzlich gibt sich Gottlieb mit dem Zuwenig zufrieden. Zumal auch sie gemerkt hat, daß vielmehr aus der Reimann-Biographie nicht mehr herauszuholen ist, als bereits nach außen gedrungen ist. Soviel Aufregendes, Außergewöhnliches, Außerordentliches war wohl doch nicht im Leben der 1933 in Burg bei Magdeburg Geborenen, die 1973 in Berlin-Buch starb. Weshalb die Biographin trotzdem von einem „Ausnahmemenschen“ spricht? Ist ein Mensch eine Ausnahme, der „unbekümmert, fröhlich, sportlich, frühentwickelt“ ist? Ist ein Mensch von „außergewöhnlicher Offenheit“, von „Unüberlegtheit und Spontanität“, von „großer Lebensgier“ eine Ausnahme?

Über die Irrungen und Wirrungen der Brigitte Reimann weiß die Verfasserin kaum Neues zu sagen. Anderes, Wesentlicheres, das über das hinausgeht, was Brigitte Reimann äußerte, ist nicht zu hören. Noch immer erklärt Brigitte Reimann am besten Brigitte Reimann. Heute über sie nachzudenken verlangt ein Nachdenken über die Welt, in der die Schriftstellerin lebte. Die Welt der Brigitte Reimann war, eine große Sibirienreise ausgenommen, die kleine DDR-Welt. Die reduzierte auch Brigitte Reimann. Ihr tragisches Schicksal war, daß ihr zunächst die Welt gestohlen wurde und dann das Leben für die Welt. Aufgeschlossen für alle Welt, war die Schriftstellerin von zuviel Welt ausgeschlossen. Heute nachzudenken über Brigitte Reimann heißt, nicht fortwährend die wechselnden Männerbekanntschaften und die vier Ehen aufzulisten. Nachgedacht werden muß über eine Schriftstellerin, die ein durch und durch solistisches Wesen war, das sich nicht stabilisieren konnte. In diesem Sinne weiterzudenken hätte die Biographie gestärkt.

Daß sich die Autorin Reimann duzend-persönlich nähert, indem sie durchweg von Brigitte spricht, macht die Biographie nicht besser. So kameradschaftlich Brigitte Reimann auch war, Kumpelhaftigkeit war ihr zuwider.

Margret Gottlieb mag sich die größte Mühe gegeben haben, genau zu sein. Sie ist genau, wenn das Genauigkeit ist, sich an die Linie zu halten, die Brigitte Reimanns Texte gezogen haben. Muß Gottlieb die Linie verlassen, wird das Dilemma der Biographin deutlich. Für sie ist Brigitte Reimann und die DDR vor allem das, was sie gelesen hat. Äußerst großzügig gesehen wird Bitterfeld zu einem „Ort zwischen Hoyerswerda und Spremberg“. O je! Ein Autor, Mitglied des Zentralkomitees der Partei, wird zu einem Mitglied der „Bezirksleitung“. Der Schriftsteller Alfred Wellm wird, von einer Seite zur anderen, zu Horst Wellm. Rheinsberg wird ohne H geschrieben... Bagatellen, gewiß! Die bekommen jedoch eine andere Dimension, sobald es sich um wacklige, falsche zeitgeschichtliche, politische Angaben und Wertungen geht. Margret Gottliebs Brigitte Reimann-Biographie ist keine Ausnahmebiographie zu einem Ausnahmemenschen. Ob gerade durch diese Tatsache wieder Normalität hergestellt ist? Die Biographie erschien in der Taschenbuch-Reihe von Econ & List „Rebellische Frauen“. Ob sich Brigitte Reimann in der Reihe gut aufgehoben gefühlt hätte? Sie war keine Rebellin und auch keine wirklich große Schriftstellerin geworden. Das wußte sie. Das Wissen machte einen Teil des Schmerzes in ihrem Leben und Sterben aus.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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