Eine Rezension von Hans Wiesner


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Ein eigenwilliges Zeitgemälde

 

Peter O. Chotjewitz: Das Wespennest

Rotbuch Verlag, Hamburg 1999, 320 S.

 

Irgendwie fühlte ich mich beim Lesen dieses Buches an Grimmelshausens „Simplicissimus“ und an den „Wundertäter“ des Erwin Strittmatter erinnert. Und ich könnte mir vorstellen, daß sich Peter O. Chotjewitz, der 1934 in Berlin geborene Feuilletonist, Romancier und Hörspielautor, ein bißchen in der Tradition dieser beiden Großen sieht. Ein Schelmenroman ist sein neuestes Buch vielleicht nicht, eher so etwas wie ein schelmischer historischer Roman. Viel Vergnügliches und noch mehr Nachdenkliches, manch eigenwillige Person und zahlreiche komische oder erschröckliche Situationen sind hier verknüpft zu einem sehr subjektiven, doch irgendwie stimmigen Spiegelbild deutscher Geschichte von der Machtübernahme der Nazis bis zum Einzug der Wessis ins Ossiland. Mit kleinen Zeitreisen zum Ersten Weltkrieg, zur Revolution von 1830, ins Reformationszeitalter und auch in die Steinzeit.

Mancher Leser wird in diesem Roman die durchgehende Fabel vermissen und meinen, es sei gar keiner. Es ist eine bunt gemischte, zeitlich verschränkte Folge von 66 Episoden oder Minierzählungen, die als Zusammenhalt den gleichen Personenkreis (natürlich in verschiedenen Generationen) und die nordhessische Kleinstadt Hofacker zum Mittelpunkt haben. Mit Ausflügen nach Osten und Westen, nach Berlin und Prenzlau wie ins spanische Almeria und nach Tucson/Arizona. Der auf dem absteigenden Ast befindlichen Sippe des Gutsbesitzers von Horwitz wird der Verwandten- und Bekanntenkreis des aus einfachen Verhältnissen zum Rechtsanwalt und Romanschreiber aufsteigenden Karl-Otto Modjewski, genannt Modder, gegenübergestellt. Modder und Tita, die Tochter des alten Horwitz, treten gelegentlich als Ich-Erzähler auf und heiraten im 29. Kapitel. Später gehen sie wieder auseinander, und Tita heiratet, diesmal standesgemäß, einen mindestens 15 Jahre jüngeren Edelmann namens Luitpold von Arco. Das geschieht im November 1989, als „in den Spätnachrichten kam, daß es in ganz Berlin keine Bananen mehr gab, weil die Ostdeutschen plötzlich alle in den Westen kamen“. Eine weitere wichtige Person ist Max Klebe, der jüdische Emigrant, der aus Palästina nach Hofacker zurückkehrt und sich um die Aufklärung eines Mordes bemüht.

Diskutiert wird über Gott und die Welt, die Judenfrage und die Vergangenheitsbewältigung, die Atombombe und die Treuhandpraxis, und des öfteren auch etwas derb über das Sexuelle. Es wird mit GIs und deutschen Fräuleins im Presley-Schuppen gefeiert und das Bayreuther Festspielhaus bewundert. Die 68er ziehen Revue und die RAF, die erste Bundestagswahl wird reflektiert und das Bemühen eines Rechtsanwaltes, westdeutsche Eigentümer ostdeutscher Grundstücke aufzufinden. Reizvoll und ein bißchen schockierend zugleich ist der plötzliche Wechsel von sehr anschaulicher, sehr sinnlicher Schilderung ins Skurrile, Verfremdete. Zugleich haben wir es mit einem Sammelsurium von Sprichwörtern und Volksweisheiten zu tun. Manches eignete sich auch für ein Zitatenlexikon anderer Art. So könnte dort unter „Mediengesellschaft“ stehen: „Jeder Fernsehbericht über einen Bürgerkrieg, ein Erdbeben oder eine Überschwemmung ist praktisch der Zusammenschnitt eines Films, der nie in die Kinos kommen wird. Wir sind längst gewohnt, nur noch die Trailer zu konsumieren.“ Oder unter „Ideologie“: „In den 60er Jahren stand irgendwo bei Marienborn ein riesiges Warnschild mit der Aufschrift: ,Die Lehre von Marx und Engels ist allmächtig, weil sie wahr ist‘... Diese Naivität, Allmacht und Wahrheit in eins zu setzen, und dieser Kinderglaube, ein Staat brauche nur ein wahres theoretisches Fundament zu haben, um zu überdauern.“

Chotjewitz’ Geschichtsbuch beginnt mit der Maifeier 1933 und endet (zeitlich, nicht seitenmäßig) mit einem „Blick in die Zukunft“, auf die Bundestagswahl vom 27. September 1998, in deren Ergebnis Gregor Gysi Kanzler einer großen Koalition aus PDS, SPD und Grünen wird. Bayern sagt sich daraufhin im Frühjahr 1999 von der Bundesrepublik los und stellt, als neues NATO-Mitglied, die Bayrische Befreiungsarmee auf. Ganz so schlimm ist es bekanntlich nicht gekommen. Was wirklich Schlimmes geschah, konnte offenbar auch Chotjewitz nicht voraussehen. Sonst hätte er vielleicht eine Zeit- oder sonstige Reise auf den Balkan unternommen. Daß er es nicht tat, ist eigentlich der einzige Mangel, den ich an diesem Buch feststellen konnte. Und wer bis zu Ende liest, erfährt auch, wie es zu seinem Namen gekommen ist. Die Luftwespen, heißt es da, seien „die Erfinder des modernen Romans...“ Das Nest der Luftwespe hat die Struktur dieses Romans, lauter Waben, umgeben von einer fragilen Substanz, die sich anfühlt wie altes Papier. Deshalb heißt er Das Wespennest.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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