Eine Rezension von Sibille Tröml


Conductor meets Kindler oder Über einen Zusammenhang von Diskursanalyse, Waldspaziergang und Eisenbahnfahrt

Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie
Ansätze - Personen - Grundbegriffe.

J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 1998, 593 S.

 

Wer wirklich ehrlich gegenüber sich selbst ist, wird sich eingestehen (müssen), daß auch er in den letzten Jahren dann und wann hilf- und ratlos dastand im literatur- und kulturwissenschaftlichen Theorien- und Terminuswald und ihm gelegentlich sogar drohte, in selbigem verlorenzugehen. Die vor allem in den 70er und 80er Jahren vorrangig in den USA und in Frankreich in den Boden gesteckten Setzlinge sind mittlerweile auch hierzulande gewachsen und haben - gemäß den Gesetzen der Natur - bereits für Nachwuchs, Veredelungen oder Kreuzungen gesorgt, auch wenn sie selbst noch nicht immer zum allseits bekannten heimischen Pflanzengut gehören. Dissémination, Simulakrum, Synekdoche, Konjektur, Metafiktion, Leitdifferenz, Filmsemiotik - neben solchen (noch) mehr oder minder fremd klingenden Begriffen nehmen sich die der Gender Studies und die der „Post“-Ära mittlerweile geradezu wie Allgemeinwortschatz aus. Doch da hilft kein Jammern; einmal Gedachtes, Gesagtes und Aufgeschriebenes kann nicht mehr zurückgenommen werden. Und da Wissenschaftlichkeit - zumindest im „deutschen“ Sprachgebrauch - noch immer bzw. heutzutage eigentlich sogar mehr denn je meint, sich durch Fremdwörtlichkeit behaupten, rechtfertigen und weiterhin (als Baumhausgesellschaft) definieren zu müssen, kommt der Gelegenheitswanderer ebensowenig um all die Termini herum wie der erstmalige Spaziergänger und der professionelle „Waldgeist“. Ganz gleich, wie lange und wie intensiv man durch die Wälder streift - das Pflanzengut ist da, und wer will (kann bzw. darf) schon auf Dauer als vermeintlich Unwissender oder gar als „Dümm-ling“ umherziehen.

Damit ist nun glücklicherweise auch Schluß, denn der Anglist Ansgar Nünning hat zusammen mit 150 Kollegen eine Orientierungshilfe geschaffen. Kompakt, übersichtlich und in altbewährter Kindler-Lexikon-Form bietet sie in über 600 Artikeln Einführungen in die wichtigsten literatur- und kulturwissenschaftlichen Kategorien (z. B. Dekonstruktivismus, Diskurstheorie, Filmtheorie), informiert über deren Denker und Hauptrepräsentanten (von A wie Abrams und Adorno bis W wie Wittgenstein und Woolf) und erläutert mit Querverweisen die von ihnen durch Neuschöpfung, Neu-, Um- oder Zusatzkonnotierung geprägten Begriffe. Beachtung finden zudem inhaltsschwere Wörter, denen in verschiedenen Theorien eine (zentrale) Bedeutung zukommt, die aber zum eher „klassisch“ oder „traditionell“ zu nennenden Vokabular in der Wissenschaft (z. B. Arbitrarität des Zeichens, Plot, Verfremdung) und im Alltagswortschatz (z. B. Alphabetisierung, Macht, Geschmack, Originalität, Patriarchat) zählen. Eine stichwortbezogene Auswahlbibliographie am Schluß einer jeden Erläuterung sowie eine den Band insgesamt abschließende Auswahlbibliographie mit umfassenden literatur- und kulturtheoretischen Werken runden das Ganze ab.

Zweifellos wird der eine oder andere die Auswahl der auf knapp 600 Seiten verzeichneten Namen, Begriffe und Theorien nicht für vollständig halten, wird der jeweilige Fachmann hier und da gern etwas ergänzt wissen wollen und wird sich der Laie gelegentlich etwas überfordert sehen angesichts von als bekannt vorausgesetzten Fremdwörtern (wie idiosynkratisch, Okkurenz) bzw. angesichts einiger Erläuterungen, die erst einmal mit Querverweisen Unverständlichkeit und damit Erschrecken schaffen. Doch während das eine das Pech, Schicksal oder Leid des Spezialisten und Kenners ist, ist das andere eben das Problem des Nichtfachmanns. Erinnert seien alle drei Personenkreise indes daran, daß es sich hier um ein Lexikon handelt, was für die beiden erstgenannten die notwendige Verknappung und Konzentration erklären und notfalls „entschuldigen“ muß. Der hier an dritter Stelle genannte Kreis sei vorerst damit getröstet, daß aller Anfang schwer ist und daß der Begriff des Nachschlagewerkes (leider) eben nicht ausschließt, auch i n n e r h a l b desselben suchen und nachlesen zu müssen. Wem lediglich an der schnellen Klärung eines Begriffes gelegen ist, der wird sich darüber natürlich ärgern. Wer jedoch erst einmal neugierig geworden ist und wer das Komplizierte als (intellktuelle) Herausforderung begreift, der wird (auch) in diesem guten Band der Metzler-Lexikon-Reihe vom „eigentlichen“ Weg abkommen und sich in der ihm allmählich vertraut werdenden fremden Pflanzenwelt vielleicht sogar lustvoll verlieren. Doch Vorsicht! Auch wenn den einen oder anderen Erst- oder Neuwanderer plötzlich oder allmählich die Leidenschaft packt, so sollte doch nicht vergessen werden, daß Wandern zwar unendlich reich und wohltuend für Körper und Seele sein kann, daß vom Wandern alleine jedoch (leider) nur wenige leben können. Daran zumindest erinnerte mich eine nette, gutaussehende und kluge Bekanntschaft bei einer Fahrt mit dem IC. Das von mir in einen mausgrauen, undurchsichtigen Plastikumschlag gehüllte Buch, in das ich, um die Seite zu halten, einen Bleistift geschoben hatte, bevor ich es kurz beiseite legte, erkannte er sofort als einen Kindler. Sehnsuchtsvoll erzählte er von seinem Studium und seiner sich daran anschließenden Arbeit als Germanist an einer Universität - es war der Schaffner ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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