Eine Rezension von Sibille Tröml


Und es gibt sie doch

Marc Aeschbacher: Vom Stummsein zur Vielsprachigkeit
Vierzig Jahre Literatur aus der deutschen Schweiz (1958-1998).

Europäischer Verlag der Wissenschaften P. Lang, Bern 1997, 430 S.

 

Zu Beginn eine Frage: Denken auch Sie bei dem Begriff (deutschsprachige) „Schweizer Literatur“ tatsächlich nur an Johanna Spyris Heidi oder ähnliche (un-)glücklich machende Geschichten über (un-)glückliche Mädchen mit (un-)glücklichen Geißen oder Kühen in (un-)glücklichmachenden Bergen? - Zumindest von schweizerischer Seite nämlich scheint mit dem Etikett einer „landeseigenen“ Literatur immer irgendwie gerade dieses Bild verbunden zu sein, weswegen man sich denn auch mehr oder minder heftig dagegen wehrt. So nannte Gottfried Keller seinerzeit „die Erfindung und Inbetriebsetzung einer schweizerischen Literatur müssig“ und verwahrte sich geradezu dagegen, „als schweizerische Literatursache“ betrachtet und so zu den „Berner Oberländer Holzschnitzereien, Rigistöcken mit Gemshörnern“ gezählt zu werden. Der circa ein halbes Jahrhundert nach Kellers Tod geborene E. Y. Meyer äußerte Jahrzehnte nach ihm: „Es gibt keine Schweizerschriftsteller - oder es sollte sie wenigstens nicht geben.“ Und auch Adolf Muschg sprach sich gegen die Existenz einer schweizerischen Nationalliteratur aus, betonte jedoch gleichzeitig, daß man angesichts deutscher (französischer oder italienischer) Eingemeindungstendenzen (nicht selten erst im schriftstellerischen Erfolgsfalle!) zumindest so tun solle, „als ob es sie gäbe“. Die Wissenschaftler, die diesem Ansinnen für die deutschsprachige Schweizer Literatur folgen, gibt es vor allem in den USA und Großbritannien; es gab sie in der ehemaligen DDR, und es gibt sie - natürlich - in der Eidgenossenschaft selbst.

Der junge in Solothurn lehrende Marc Aeschbacher ist einer von ihnen. Mit seinem (im helvetisch rot-weißen Einband daherkommenden) Band Vom Stummsein zur Vielsprachig-keit legt er nun die zweite, überarbeitete Fassung eines bereits 1997 bei Peter Lang unter anderem Titel erschienenen Bandes vor. Von 1998 rückblickend, schaut er dabei auf „Vierzig Jahre Literatur aus der deutschen Schweiz“. Und gerade mit seiner Untertitel-Formulierung hat sich der Mann aus dem in Neutralität geübten Land auch gleich aus zwei germanistischen Schußbahnen genommen: Zum einen nämlich umgeht er geschickt den noch immer uneinheitlich verwendeten Begriff von der „Gegenwartsliteratur“. Zum anderen vermeidet er - wenn auch „nur“ im Titel - den eingangs erwähnten Begriff von der (deutschsprachigen) Schweizer oder schweizerischen Literatur, beides wiederum Formulierungen, die in seinem ursprünglich zeitlich etwas enger gefaßten Band Tendenzen der schweizerischen Gegenwartsliteratur (1964-1994). Exemplarische Untersuchung zur Frage nach dem Tod der Literatur noch auf der Einbandseite prangten. - Ironie des literaturwissenschaftlichen Germanistenschicksals, die zu alledem zeigt, daß sich bei aller Vorsicht und Neutralität doch immer wieder ein Eckchen zum Anstoßen findet. Der Begriff „Literatur“ meint bei Aeschbachers Betrachtungen ein Schreiben jenseits von Lyrik und Dramatik sowie jenseits von Mundartdichtung.

Angesichts von Haupt- und Untertitel ist indes noch auf eine weitere, in Anmerkung 2 gar (kleingedruckt ...) als „Warnung an Leserinnen und Leser“ formulierte Einschränkung hinzuweisen: Das vorliegende Buch ist keine Literaturgeschichte im klassischen Sinne. Diese Bemerkung bezieht sich indes weniger auf die Tatsache, daß in diesem Paperback-Band verzichtet wurde auf Fotos und polygraphische „Finessen“, wie sie beispielsweise die 1991 von Klaus Pezold bei Volk und Welt herausgegebene Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert auszeichneten. Was mehr noch als das verhindern wird, daß Aeschbachers Materialsammlung zu einer Literaturgeschichte für den allgemeinen Hausgebrauch avanciert, ist vielmehr ihre Methodik und eine sich - nicht nur für den gemeinen Leser - in Kapitel II und III daraus ergebende gewisse Unübersichtlichkeit. Während im Kapitel I vor allem bekannte, als exemplarisch für eine Gesamtveränderung gesehene Prosatexte (von Peter Bichsels Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen bis zu Zoë Jennys Das Blütenstaubzimmer) in Einzelunter-suchungen betrachtet werden (und das mit einer auffallenden Vielzahl von oftmals umfangreichen, im Fließtext zudem nicht abgehobenen Zitaten), versucht Kapitel II verschiedene Texte nach den Kategorien 1) Sprache, 2) Wahrheit - Wirklichkeit - Fiktion, Subjektivität - Identität - Individualität zu analysieren und hierbei Entwicklungen bzw. 3) Tendenzen aufzuzeigen. Kapitel III wiederum bringt die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Veränderungen in der Schweiz mit Entwicklungsverläufen in deren deutschsprachiger Literatur zusammen. Da in II und III auf Unterkapitel verzichtet wird, finden sich dann (der wohl erhofften besseren Orientierung wegen) am oberen Seitenrand Stichworte. Gepaart mit einem gelegentlich recht üppigen Fremdwortgebrauch (dem andererseits ebenfalls gelegentlich eine im Schriftgebrauch eher unübliche Umgangssprache gegenübersteht) und der bereits erwähnten fehlenden optischen Auflockerung, fordert dieser ob seiner Materialfülle zweifellos beeindruckende Band alles in allem doch eine gehörige Portion von intellektueller Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit, sprich einen langen geistigen „Atem“.

Die Vielzahl der eingebrachten Autoren, Bücher und Themen zeigt indes eines sehr deutlich: Ganz gleich, wie man sie nun nennt - ob deutschsprachige (deutsche?) Literatur aus der Schweiz (was machen wir dann aber mit den häufig bzw. viele Jahre in Deutschland, Frankreich oder den USA lebenden Schweizer Schriftstellern wie Raeber, Jaeggi, Villain, Nizon, Federspiel?) oder Schweizer bzw. schweizerische Literatur -, es gab sie in den vergangenen vierzig Jahren und gibt sie auch nach dem Tod von Frisch und Dürrenmatt noch immer, und sie ist abwechslungsreich und vielschichtig. Auf erstaunliche Weise zeigt die deutschsprachige Schweizer Gegenwartsprosa dabei zudem, daß Unterhaltsam- und Tiefsinnig-geistreich-Sein einander nicht ausschließen müssen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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