Eine Rezension von Kurt Wernicke


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 Eine verdienstvolle Edition für die Berlin-Historiographie

Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46
Teil II: 1946.
Bearbeitet und eingeleitet von Dieter Hanauske.
(Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 2, T. II. Herausgegeben von Jürgen Wetzel).

Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1999, 1160 S.

 

Als der erste Band dieser bemerkenswerten Edition zum Jahresende 1995 vorgestellt wurde, gaben auch wir (vgl. die Rezension in Berlinische Monatsschrift 4/1996, S. 105) uns der von den Herausgebern geäußerten Hoffnung hin, daß schon im folgenden Jahr der zweite Band folgen werde, der das Jahr 1946 zum Inhalt hat. Nun hat die Arbeit an dem damals angekündigten Band doch mehr als drei weitere Jahre in Anspruch genommen - zu bedauern ist dieser Zeitverzug jedoch mitnichten; denn der jetzt vorliegende Teil II ist - wenn das überhaupt anging!- noch umfangreicher und penibler kommentiert als Teil I, und er ist mit einem umfangreichen Register für beide Bände versehen, der dem dankbaren Benutzer ein entscheidendes Hilfsmittel für die Arbeit auch mit Teil I in die Hand gibt, auf das er bis dato noch verzichten mußte. Wenn schon von Dank die Rede ist, so muß er auch gleich eingangs der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin und der Stiftung Preußische Seehandlung dargebracht werden, ohne deren großzügige finanzielle Unterstützung das ganze Editionsunternehmen nicht möglich gewesen wäre: für die Wissenschaft, namentlich für die Berlin-Historiographie, ein hoher Gewinn, ja unverzichtbar - aber finanziell natürlich ein eindeutiges Zuschußgeschäft, das ohne großherziges Sponsoring nicht einmal einzuleiten gewesen wäre.

Um beim Dank zu bleiben: Mit dieser Edition hat sich Dieter Hanauske einen bleibenden Platz in der Gilde herausragender Berliner Archivare gesichert, die in etwa mit Ernst Fidicin, Paul Clauswitz und Ernst Kaeber umschrieben ist: Eine derart ausführliche Kommentierung der an sich schon mit hohem wissenschaftlichen Wert behafteteten Aktenstücke potenziert geradezu deren Aussagekraft. Gemessen an einer Bearbeitungszeit von nur einem halben Dutzend Jahren wird da eine eminente Leistung vor uns ausgebreitet, die wirklich ganz erstaunlich ist und ein - nennen wir es ruhig so - „Einwühlen“ in das Thema manifestiert, dem man nur höchste Anerkennung zollen kann. Die umfängliche Literaturliste, die Teil II nun präsentiert (einunddreißig engbedruckte Seiten, darunter allerdings auch viele Titel aus der Zeitungsauschnittsammlung des Landesarchivs), kann angesichts der Fülle an sachkundigen Anmerkungen zu jeder einzelnen Seite nicht nur als eine Konzession an den bibliographiescheuen Benutzer, sondern als wirklich benutzte Grundlage für gründliche Recherche zu Bezugnahmen, Hintergründen und Zusammenhängen eingeschätzt werden.

Für die Würdigung der Leistung des ersten Berliner Nachkriegsmagistrats ist die nun vollständig vorliegende Publikation geradezu unverzichtbar - diese Würdigung vorzunehmen, kann allerdings nicht der Sinn dieser Rezension sein. Was zu einem ausgewogenen, vor der Geschichte bestehenden Urteil ohne die ideologische Verklemmtheit beider Seiten im Kalten Krieg mit ihren einpassungsorientierten Vorab-Schemata von Gut und Böse zu sagen wäre, das aus den nun zugänglichen Dokumenten zu gewinnen ist, wurde in der oben angeführten Rezension zu Teil I bereits gesagt. Noch deutlicher als in Teil I zeichnet sich in Teil II ab, daß der Magistrat davon Kenntnis nehmen mußte, daß die einheitliche Militärverwaltung der Stadt, die die Alliierte Kommandantur eigentlich gewährleisten sollte, durch einseitige Maßnahmen der Besatzungsmächte in den jeweiligen Sektoren Risse bekam. Die gewiß SED-initiierten, aber von der Alliierten Kommandantur abgesegneten Versuche, im Sommer 1946 angesichts des abzusehenden Wahltermins die Parteienverantwortung im Magistrat zu verbreitern und der CDU sowie - nach der Ende Mai erfolgten Zulassung sowohl von SED wie SPD in allen Sektoren Berlins - der SPD verantwortliche Magistratsfunktionen anzubieten, hat den Herausgeber dazu veranlaßt, u.a. aus einer gänzlich anderen Quelle (dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung) zwei Protokollauszüge von Vorstandssitzungen des CDU-Landesverbands Berlin einzufügen, die das Ringen um Entscheidungen zur Annahme von Stadtratsposten durch eine Partei, die die SED-Präponderanz im Magistrat durchaus durchschaute, zu verdeutlichen: So einfach, wie im nachhinein die Scheidung zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse primitiviert wurde, war es eben doch nicht - wer in der wiederaufgebauten Stadt satt und gut bekleidet über Totalitarismus und Antitotalitarismus im 20. Jahrhundert sinniert, verkennt das Dilemma zwischen Verantwortung und Obstruktion, besonders im Vorfeld von Wahlen, die einer von Hunger, katastrophalen Wohnverhältnissen und Ruinen umgebenen Bevölkerung bevorstanden! Parteipolitisches Kalkül gab es demnach nicht nur auf der Seite derer, die alles „ganz demokratisch aussehen“ lassen, aber doch alles „fest in der Hand haben“ wollten. Die Berliner SPD machte es sich da in ihrem Kalkül viel leichter, indem sie auf scharfe Konfrontation zum - so ihre nicht unberechtigte Diktion - „SED-Magistrat“ ging. Um so erstaunter vernahm der Gast bei der Veranstaltung zur Presse-Präsentation von Teil II aus dem Munde des als Ehrengast begrüßten Regierenden Bürgermeisters i.R. Klaus Schütz, daß er bei seinem Vor-Wahl-Engagement für die Berliner SPD im Jahre 1946 den Magistrat gar nicht wahrgenommen habe. Dann muß er nicht in die SPD-Zeitung „Der Sozialdemokrat“ oder den SPD-nahen „Telegraf“ geschaut haben; denn beide Organe warfen derart viel Unflat gegen den Magistrat, daß sich Oberbürgermeister Arthur Werner beim britischen und amerikanischen Stadtkommandanten beschwerte und der britische Stadtkommandanten wirklich den „Telegraf“ an einem ganz bestimmten vorbereiteten Feldzug hinderte. Milde lächeln kann der Zeitzeuge nur, wenn ein aus später erworbenem Wissen genährter Blick auf Vergangenes den einstigen „Regierenden“ unter allen Stadträten des ersten Nachkriegsmagistrats nur dem Stadtrat für Bauwesen, Hans Scharoun, Referenz erweisen läßt; diesen mit Kommunisten und deren fellow-travellers gemeinsam in einen Topf zu werfen wäre schon deshalb nicht angegangen, weil es ja immerhin Klaus Schütz selbst war, der im Februar 1969 seine Unterschrift unter die Urkunde gesetzt hatte, die Hans Scharoun zum Ehrenbürger Berlins erhob. Eine recht späte Wiedergutmachung konnte der 1972 verstorbene Scharoun anläßlich der neulich stattgehabten Präsentation leider nicht mehr erleben: Sein 1946 in der Magistratsausstellung „Berlin plant“ vorgelegtes Konzept eines Neuaufbaus Berlins in funktional gegliederten Bändern nördlich und südlich der Spree wurde von Klaus Schütz ausdrücklich als innovativ gelobt. Sic tempora mutantur (so ändern sich die Zeiten). Das Konzept wurde im Spätsommer 1946 von der Berliner SPD derart niedergemacht, daß selbst das von den Franzosen lizensierte Abendblatt „Der Kurier“ sich dazu veranlaßt sah, sich schützend vor Scharoun und dessen Ideen zu stellen!

Natürlich macht das Einlesen in die Protokolle und die vom Herausgeber hinzugefügten anderen Dokumente nicht eine historische Würdigung der Leistung des ersten Nachkriegsmagistrats überflüssig. Hanauskes behutsame Einleitungen zu den beiden Teilen der Edition ersetzen diese auch keineswegs, sondern leisten allenfalls Hilfestellung. In zweierlei Hinsicht muß man Hanauske voll und ganz recht geben: Entgegen den Intentionen der Moskauer Zentrale der KPD und der von Dimitroff geleiteten Auslandsabteilung der KPdSU - die vereinfacht immer an Ulbricht personalisiert werden - erlangte der Berliner Magistrat keineswegs die beabsichtigte, auf ganz Deutschland ausstrahlende Vorbildwirkung hinsichtlich einer Mobilisierung aller Anti-NS-Kräfte im breiten Bündnis bei maßgeblichem Einfluß der Kommunisten; dennoch aber bleibt ihm bzw. den in ihm engagierten leitenden Persönlichkeiten das Verdienst, das städtische Leben aus unsäglich schweren Anfangsbedingungen in wenigen Monaten wieder auf ein erträgliches Maß an Alltagsnormalität zurückgeführt zu haben. Nachgeborene haben es immer sehr schwer, sich in konkrete Lebensumstände vergangener Zeitabschnitte hineinzuversetzen: Wir haben es gerade erst beim leichtfertigen Umgang mit der Rezeption eines Bombenkrieges durch Politiker und Medienmacher, denen jede eigene Erfahrung mit erlebtem Bombenkrieg abgeht, erfahren. Hanauske hat daher seine Einleitung nicht mit einer Selbstbewertung aus der Mitte des ersten Nachkriegsmagistrats geschlossen - solche liegen durchaus ausgewogen auch von damals mitwirkenden Nicht-Kommunisten vor -, sondern mit der offiziellen Würdigung von dessen Leistungen durch den neugewählten Vorsteher der am 20. Oktober 1946 gewählten Stadtverordnetenversammlung, Otto Suhr. Inwieweit Suhrs würdigende Worte allerdings allein auf die der Stadtverordnetenversammlung zu deren Konstituierung zugeleitete Botschaft der vier Stadtkommandanten zurückzuführen sind, bleibt bei Hanauske unausgesprochen.

Sehr glücklich wird die Edition und ausführliche Kommentierung der Dokumente noch ergänzt durch 46 Biographien leitender Persönlichkeiten des Magistrats sowie eine chronologische Auflistung all jener Befehle der Alliierten Kommandantur, die in den Protokollen eine Rolle spielen. Wenn man bedenkt, daß die alliierte Behörde 1945 dreihundertelf und 1946 bis zum 10.Dezember vierhundertachtunddreißig Befehle ausgab - die ja alle für die deutschen Kommunalbehörden absolut verbindlich waren -, dann dämmert den Heutigen vielleicht, was es bedeutete, Verwaltungsarbeit unter den Bedingungen von Besatzungsrecht zu leisten. Nr. 438 des Jahres 1946 regelte übrigens die Abberufung des ersten Nachkriegsmagistrats, der wohl zu Recht auf dem Standpunkt stand, daß eine durch Besatzungsrecht berufene Stadtverwaltung auch nur durch Besatzungsrecht abberufen werden konnte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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